1998 wurde
Thomas G. (damals 17 Jahre) von Verbrechern entführt. Er wurde drei Wochen in
einem Keller gefangen gehalten und auf vielfältige Art und Weise gequält, ja
diese Quälerei war das einzige Ziel der ganzen Geschichte, die Kidnapper
forderten kein Lösegeld und liessen ihr Opfer nach 21 Tagen wieder frei,
nachdem sie es erniedrigt, malträtiert und quasigefoltert hatten: Thomas musste
stundenlang stocksteif stehen, er muss auf Befehl auf Tische hüpfen, die
Verbrecher zwangen ihn, sich mit Kot zu bestreichen, oder auch mit Essen, das
dann von Haustieren abgeschleckt wurde, Thomas musste sich Eiswasser auf den
Kopf giessen und bei Minusgraden in den Boxershorts draussen herumlaufen, er
musste Spinnen schlucken und Waschpulver essen. Bei aller Qual hatte der
Teenager aber doch einen wachen Kopf behalten, er konnte wichtige Hinweise
geben, die zur Ergreifung der Täter führten. Paul H. und Robert K. wurden zwei
Monate nach der Entführung verhaftet und wegen Kidnapping, Freiheitsberaubung,
sowie Körperverletzung in 15 Fällen angeklagt. Beide bekamen zehn Jahre
Gefängnis ohne Bewährung (für meine eidgenössischen Leserinnen und Leser:
unbedingt)
Zwanzig
Jahre später blicken wir auf Marco M. (19 Jahre), dem Ähnliches widerfahren
ist. Auch er stand stocksteif, auch er hüpfte auf Tische, Tiere leckten Pesto
und Tomatensauce von ihm ab, er lief bei -12° im Slip durch den Wald und goss
sich Eiswasser über den Kopf. Er schluckte Spinnen, Asseln und Raupen und
vesperte sich durch seinen Putzschrank, Waschmittel, Spülmittel und
Scheuermilch. Der grosse Unterschied liegt in der Ursache: Marco wurde nicht
entführt, er wurde nicht gezwungen, Marco war nicht in der Hand von Kidnappern
und nicht in einem Keller gefangen. Keiner wurde verhaftet, keiner angeklagt
und niemand unbedingt (ohne Bewährung) verurteilt, denn…
Marco hat
sich alle diese Folterungen selber zugefügt.
Er hat an
dem teilgenommen, was als XY-Challenge durch die Lande geistert, er hat also
mit sich selber den grössten Unsinn angestellt, sich dabei gefilmt oder filmen
lassen und das ganze ins Internet gestellt.
Die
Challenges also.
Manchmal nur
blöd. Manchmal saublöd.
Manchmal nur
gesundheitsgefährdend.
Manchmal
richtig gefährlich.
Gut, auf den
Tisch zu hüpfen hat noch niemand geschadet, man kann sich, wenn man sich dumm
anstellt, eine Sehne reissen oder ein Band dehnen.
Und kaltes
Wasser halten ja viele für extrem gesund, vor allem, wenn sie Jünger des Herrn
Kneipp sind, die ja auf kaltes Wasser schwören. Hier bestünden
Kontraindikationen nur bei schwer Herzkranken, aber das sind ja nicht alle.
Waschpulver
zu essen – und das ist eine aktuelle Challenge – ist dagegen richtig dämlich.
Warum steht denn Augenkontakt vermeiden /
darf nicht in die Hände von Kindern gelangen auf den Packungen? Eben, weil
das Zeug giftig ist. Und weil man es eben nicht essen sollte.
Challenge.
Eigentlich
eine Herausforderung, eine Aufgabe, etwas Mutiges, Sportliches, etwas, auf das
man hinterher stolz sein kann. Erstbesteigungen waren Challenges, lange Flüge
und Erdumrundungen, aber auch eine neue Stelle, ein Job, eine Position oder ein
Projekt.
Aber sicher
nicht eine dämliche Aktion, die bestenfalls eben nur dämlich ist und im worst
case einen kaputtmacht.
Warum gibt
es keine Intelligenz-Challenge?
Nach dem
Motto «Ich sage etwas Kluges und stelle das ins Netz»? Nach der Devise «Ich
habe einen sinnvollen Gedanken und stelle ihn online»? Warum rezitiert niemand
ein Gedicht oder spricht einen Text?
Klar, warum.
Weil das für
die meisten eine Challenge wäre, die über ihre Möglichkeiten hinausginge, weil
sie diese Aufgabe, diese Herausforderung, diese Hürde eben nicht meistern
würden.
Paul H. und
Robert K. mussten ihre Strafe komplett absitzen und benahmen sich den Rest
ihres Lebens anständig.
Marco M.
wird natürlich nicht bestraft, denn Dummheit ist nicht strafbar, Blödheit ist
nicht strafbar und Selbstverstümmelung ist es auch nicht – es sei denn im
Krieg.
Dennoch
sollte die Ausdenkung (sic) von solchen Challenges unter Strafe gestellt
werden. Wenn ich mir vorstelle, dass ein Schüler morgens in den Unterricht
kommt und anfängt zu kotzen, weil er Putz- oder Waschmittel gegessen hat,
bekomme ich die kalte Wut.