Dienstag, 6. Juni 2017

Temporäres Totalchaos



Urs, ein Freund aus Zürich rief mich Mitte Mai an. Und neben vielem anderen Geplauder erwähnt er, er müsse nächste Woche nach Basel, vielleicht könne man sich treffen, dummerweise war ich genau die Woche weg. «Aber, wenn ich dich schon gerade an der Strippe habe», so Urs, «ich muss am Nachmittag von Binningen nach Dornach, das ist doch der 2er bis Bahnhof und dann der 10er, oder?» Tja, meinte ich, das sei zurzeit nicht ganz so einfach, Basel sei eine einzige Baustelle. In Binningen müsse er den Schienenersatzbus bis Bahnhof nehmen, weil Binningen ein einziges klaffendes Loch sei, dann könne er am Bahnhof in die 2 umsteigen, die eine andere Strecke fahre, bis M-Parc; der 10er und der 11er könnten nämlich nicht über den Bahnhof, weil der Aeschengraben aufgerissen sei, am M-Parc müsse er auf die Linie 10 oder 11 warten, eine Station bis Dreispitz, am Dreispitz warte dann wieder ein Schienenersatzbus bis Dornach, weil auch im Birstal die Gleise komplett erneuert werden.
«Kannst du mir das noch mal aufschreiben und als WhatsApp schicken?»
«Klar, mache ich.»
Und jetzt kam ein Satz von Urs, über den ich noch lange nachdenken muss: «Ihr macht das richtig in Basel, wenn Chaos, dann komplett.»

Ich denke schon, dass mein Zürcher Freund – ja, verdammt, es ist ein lieber und netter Freund von der Limmat, was ist schon dabei, jeder Basler hat Freunde in Zürich, die meisten geben es nur nicht zu – die Bemerkung leicht sarkastisch gemeint hat. Aber eigentlich ist es völlig richtig: Wenn Chaos, dann komplett, oder präziser formuliert: Ein temporäreres Totaldurcheinander ist besser als ein ewiges Leichtdurcheinander. Wenn ich mich eh über eine Änderung der Fahrtstrecke informieren und diese aufschreiben muss, dann ist es völlig wurscht, ob ich zwei oder drei Zeilen schreibe. Wenn mein normaler Weg nicht geht, muss ich sowieso an den PC und recherchieren. Wenn der 2er eh die normale Strecke nach Binningen nicht bedienen kann, dann kann er auch die 10 und 11 am Peter Merian ersetzen.

Ich glaube, viele Dinge auf dieser Welt wären einfacher, wenn man den Mut zu einem temporären Totalchaos hätte.
Sie kennen das vielleicht vom Küche-Umräumen. Meistens hat man den Mut nicht, alle Formen und Pfannen, alle Gläser und Tassen, hat man nicht den Mumm alle Tiegel und Töpfe, Messer und Löffel auf den Küchenboden zu stellen und dann neu einzuräumen. Nein, man fängt damit an, dass man die zwei Teetassen, die bei den Gläsern so blöd aussehen, zu den Kaffeetassen schaffen will, wo sie nicht hineinpassen, worauf man alle Kaffeetassen (samt Teetassen) in ein grösseres Fach tut, ein Fach, in dem aber bis jetzt die Gratinformen waren, diese schafft man… Am Ende steht nach zwei Stunden der gesamte Küchenkasteninhalt auf dem Fussboden, eine Situation, die man ja gerade vermeiden wollte.

Mut zum temporären Totalchaos.
«Chaos» ist ja eigentlich die Altgriechische Übersetzung des Althebräischen «tohu wa bohu», wüst und leer, also des Zustandes vor der Erschaffung der Welt in der Genesis, bibelologisch exakt 1. Mose 1, Vers 2. Aus einem Chaos oder einem Tohuwabohu kann also durchaus etwas Brauchbares entstehen.

Nehmen wir doch mal die EU: Wäre es nicht angesagt, die ganze Sache mal ein halbes Jahr auf Eis zu legen, Zähler auf null, die ganzen BrüBürs (Brüsseler Bürofritzen) bekommen 6 Monate Urlaub, und in der Zeit darf jedes Land noch mal entscheiden, ob es dabei sein möchte oder nicht. Und dann schaut man sich die Landkarte an, und guckt, ob das Ding noch Sinn macht; eine Union Norwegen – Slowakei – Italien – Irland wäre zwar unglaublich spannend, aber ein Staatenbund ohne eine einzige Grenzberührung ist ja nich so doll.

Oder nehmen wir die Schulpolitik: Da fordert irgendjemand ein Fach Diskutieren mit drei Wochenstunden, und die will man den SuS ja nicht einfach zusätzlich aufbrummen, also müssten irgendwelche anderen Fächer um je 45 Minuten gekürzt werden, hat man die endlich zusammen, es ist sowieso wieder Musik, Kunst und Sport, müsste dort der Stoff geschmälert werden, ein Ding der Unmöglichkeit, da jedes Fach jeden noch so blöden Inhalt mit Zähnen und Klauen verteidigt. («Kein Quintenzirkel mehr – das ist der Untergang des Abendlandes!» «Wenn wir keinen Linolschnitt mehr machen, ist der Planet am Ende.» «Dann könnten wir kein Reck und keine Ringe mehr machen und wo kämen wir da hin?)
Besser wäre doch, erst einmal alle traditionellen Fächer abzuschaffen und dann einen neuen Kanon zusammenzustellen. Nein, die wurden nicht in 1. Mose 1 zusammen mit der Erde erschaffen, da muss   
ich Ihnen entschieden widersprechen, die hiessen auch schon ganz anders, z.B. Algebra/Geometrie/Musik/Astronomie und Grammatik/Rhetorik/Dialektik; Disputkunde WAR also sogar schon einmal Schulfach. 
Wenn Chaos, dann richtig. Richtig alles durcheinanderwerfen und neugestalten. Ein Tohuwabohu machen, und dann alles auf Anfang.

Während ich nun die Message für Urs schrieb, fiel mir ein, dass sie ja auch noch die Mittlere Brücke im Juni sperren.
Was der Basler macht, macht er richtig.
Und wenn es das Chaos ist.


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