Montag, 26. Juni 2017

Ist Denken pathologisch?



Neulich wachte ich an einem Sonntag schon früh auf und wollte auf einmal doch endlich wissen, was mit mir los ist. Ich hatte wieder heftig geträumt, hatte im Traum den Kölner Dom gesprengt und auf den Trümmern der gotischen Kathedrale eine Katze vergewaltigt, ich hatte in einer zweiten Traumphase den Trottoirbelag der Kö’ mit Eigelb bestrichen, während ich die Internationale sang.
Abgesehen davon, dass ich scheinbar auch in meinen Träumen sehr ausgewogen bin – es kommen sowohl die Kölner als auch die Düsseldorfer dran:
Was war nur mit meiner Psyche los? Ich beschloss, an diesem Sonntag nur den halben Tag in die Badi zu gehen und die zweite Tageshälfte für einige Psychotests zu nutzen.

Glücklicherweise muss man sich für solche Tests inzwischen keine Frauenzeitschriften mehr kaufen, man findet alles online, ich meinte aber auch nicht solche Tests wie Bin ich ein gehemmter Mensch?, Bin ich zu gutgläubig? oder Habe ich Ängste? (als ob man das nicht wüsste…), sondern seriöse, fundierte, von psychologischen Expertenteams ausgearbeitete Fragebögen zu ADHS, Bipolarer Störung, zu Asperger-Syndrom und Borderline. Ich verkroch mich also hinter meinen Laptop und hatte 4 Stunden später die folgenden Ergebnisse:

ADHS                    45 JA von 70 Fragen
Bipolar                 35 JA von 60 Fragen
Asperger             67 JA von 100 Fragen
Borderline          78 JA von 160 Fragen

Was konnte ich nun daraus schliessen? Die simple mathematische Antwort verbat sich, nach dieser hätte ich alle vier Störungen gleichzeitig gehabt. Und das konnte schlichterdings (sic) nicht sein. Also ging ich die Tests noch einmal durch und stiess auf eine Fülle von Fragen, die in sämtlichen Bögen erschienen, Fragen, die auf das Feststellen einer Psychostörung im Allgemeinen hinzielten, nicht aber dazu taugten, eine spezielle von anderen abzugrenzen.
Am meisten verwunderte mich hier eine bestimmte Frage, die in vier Varianten vorkam:

Denken Sie viel über sich und die Welt nach?    
(ADHS-Test Frage 23)
Denken Sie viel über die Welt und sich selbst nach?       
(Bipolar-Test Frage 47)
Sind Sie oft am Nachdenken, über sich und die Welt?    
(Asperger-Test Frage 83)
Stimmt der Satz für Sie: Ich denke viel über mich und die Welt nach.     
(Borderline-Test Frage 103)

Das war jetzt wirklich alarmierend, ist Nachdenken pathologisch?
Gewiss, in einer Zeit, wo eben nicht mehr nachgedacht wird, muss jemand, der sein Leben und seine Schritte, der sein Umfeld und seine Sitten be-denkt, über-denkt, der einer Sache nach-denkt und anderes voraus-denkt wie ein totaler Irrer erscheinen. Und häufig hört man ja auch so Sätze über Leute, die in der Klinik landen: «Er hat auch immer so viel gegrübelt.» oder «Er musste ja auch immer so viel nachdenken.»
Es ist ein Wunder, dass es noch keine Präventionskampagnen, dass es keine Prophylaxe, es ist ein Wunder, dass es keine Warnhinweise gibt. Aber vielleicht kommt das noch.
Eine Horrorvision:
In den Buchläden sind alle philosophischen Bücher und alle mit einem Philosophietouch mit Banderolen umwickelt:
·         NACHDENKEN KANN ZUR SUCHT WERDEN –
FANGEN SIE AM BESTEN GAR NICHT ERST DAMIT AN.
·         AUFHÖREN MIT NACHDENKEN? – IHR FERNSEHSENDER WEISS RAT! WENDEN SIE SICH AN VOX, RTL ODER SAT1.
·         VORSICHT! DIESES BUCH ENTHÄLT PHILOSOPHISCHE BETRACHTUNGEN UND IST NUR IN KLEINEN DOSEN ZU VERWENDEN

Gut, viele Philosophen, viele Schriftsteller und Dichter, viele Nach-Denker hatten einen Hau – aber eben nicht alle. Es gibt und gab durchaus Menschen, bei denen das Denken nicht zu einer sofortigen Einweisung in die Klapse führte. Ja, ich wage sogar die Behauptung, dass der Anteil der Philosophen, Schriftsteller und Dichter, die ihr Leben wirklich in geistiger Umnachtung beschlossen, weit unter 50% liegt. Es ist halt nur viel spektakulärer, wenn ein Denker intensiv über das Leben nachdenkt, dann zum Schluss kommt, dass alles ein «Haschen nach Wind» sei und depressiv wird, als wenn ein Denker über das Leben nachdenkt und am Ende findet, alles sei sehr Ok und sogar richtig gut, die «bestmögliche aller Welten». Nicht das Denken hat den ersten in die Klapse getrieben, sondern eine schon vorher dagewesene Depression, anders formuliert: Denken schadet hier nicht.

Neulich wachte ich an einem Sonntag schon früh auf und wollte auf einmal doch endlich wissen, was mit mir los ist. Nach den diversen Tests war ich auch nicht schlauer. Nur eines war klar: Mit Denken höre ich nicht auf.



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