Dienstag, 16. Mai 2017

Der ÖV-Anti-Knigge



Die SSB, die Stuttgarter Strassenbahnen und die BVB, die Basler Verkehrsbetriebe, werben mit ganz ähnlichen Videos zurzeit für mehr Rücksicht und Anstand in ihren Fahrzeugen; Ziel ist es, einen ÖV-Knigge in die Hirne der Fahrgäste zu meisseln. Es werden dort Dinge wie «Erst aussteigen lassen», «Nicht essen und trinken», Dinge wie «Nicht laut telefonieren» und «Platz für Kinderwägen» angemahnt. Wo aber bleiben die Ermahnungen für die Gegenseite? Für die, die nach landläufiger Meinung immer die Bösen sind?
Daher kommt er jetzt hier, der Gegen-Knigge, der Anti-Knigge, der Mahnbrief für die anderen:

1.)    Stellen Sie sich fürs Aussteigen an die Tür

Sie alle kennen die Situation, Sie warten geduldig wie ein Lamm an der Haltestelle, bis alle Fahrgäste, die das Tram verlassen, ausgestiegen sind. Nun, wenn niemand mehr kommt, fangen Sie an einzusteigen. Jetzt ertönt ein Schrei, ein Mann springt von seinem Sitzplatz auf und fängt an, sich seinen Weg durch den Pulk der Hineinströmenden mit Ellenbogen und Fäusten zu bahnen: «Erst aussteigen lassen! Erst aussteigen lassen!» Gute Güte! Warum stand er nicht bei den anderen? Warum bildete mit den anderen Aussteigerinnen und Aussteiger keine Reihe? Ist er ortsunkundig? Aber die Haltestellen werden ja auch auf einem Display angezeigt. Ist er illiterat? Wahrscheinlich ist er nur ein normaler Schusseltrottel, der es einfach nicht hinbekommt, an irgendetwas rechtzeitig zu denken. Dann soll er auch hocken bleiben bis Endstation. Besonders nett ist diese Situation in Zügen, dort sehen Sie nämlich nur den Einstiegsbereich, wenn Sie dann um die Kurve gehen, dann kommt immer noch jemand entgegengeprescht. Als ob Karlsruhe HBF so plötzlich wie ein Dieb in der Nacht kommt, und sich nicht irgendwie ankündigen würde (Zugansage, Häuseransammlung, Verdichtung der Gleise, erreichte Ankunftszeit etc.)

2.)    Hören Sie bei Leisetelefonierern nicht mit

Natürlich ist nervig, wenn der Nachbar oder die Nachbarin ins Handy brüllt, vor allem, wenn Sie das eigentlich nicht mitbekommen wollen. «Du kriegen deine 50, verdammt, du kriegen, ich immer gezahlen, kein Stress mache, du kriegen 50…» (Live-Mitschnitt, ich schwöre) oder «Aber ich liebe dich doch noch, was willst du bei der Schlampe, ich liebe dich doch!», gefolgt von langem Schluchzen. Deshalb telefonieren Sie selber ja immer besonders leise. Und jetzt ist es der Frau gegenüber aber auch nicht recht, sie lässt ihre FRAU MIT HERZ oder ihre GALA sinken, sie bewegt ihren Kopf in ihre Richtung und fängt an mitzuhören. Sie reden leiser, die Nachbarinnenohren kommen näher, sie flüstern, die Frau sitzt jetzt fast auf Ihrem Schoss. Sie beenden Ihr Telefonat mit den Worten «Du, ich muss Schluss machen..» und die Dame meint pikiert: «Ich konnte gar nix hören.» Wahrscheinlich ist in ihrem Leben so wenig los, und die Dramen und Problemgeschichten in FRAU MKIT HERZ und GALA so weit weg, dass sie einfach ein wenig Drama aus nächster Nähe haben möchte…

3.)    Lassen Sie ältere Menschen Wasser trinken

In den Strassenbahnen und Bussen herrscht Ess- und Trinkverbot. Vermeiden will man damit, dass die Fahrzeuge vermüllen, dass Saucen und Dips auf die Polster tropfen und dass es furchtbar stark nach Pommes und Ketchup stinkt. Nun ist es aber etwas Anderes, wenn eine 87-jährige Person aus einer PET-Flasche Wasser trinkt. Hier sollte ein 30jähriger – und das habe ich schon erlebt – die Seniorin oder den Senior nicht anschnauzen: «He, hier ist Trinkverbot!»
Alle alten Menschen trinken zu wenig, und wenn eine Person über 80 schon daran denkt, sich im Juli bei 35° (draussen) und 45° (im Tram) ein Mineralwasser ohne Kohlensäure mitzunehmen, dann sollte man sie lassen. Übrigens EVIAN oder VALSER machen keine Flecken, ich habe es ausprobiert; und die Geruchsbelästigung hält sich auch in Grenzen. Und wenn der 99jährige Uropa wirklich seine PET-Flasche vergisst, dann räumt sie halt ein anderer auf, was soll’s.

4.)    Akzeptieren Sie Entschuldigungen

Ich streife beim Schultern meines Rucksackes eine Dame. «Ich bitte tausendmal um Entschuldigung», stammele ich. «Hrmpf», antwortet sie. Ich doppele nach: «Es tut mir leid.» «Sie müssen schon aufpassen»; zischt sie zurück.
Ach du liebe Zeit! Was erwartet sie? Was soll ich machen? Wahrscheinlich denkt sie an eine Busse von Gregorianischen Ausmassen. Aber ich bin für einen Rucksackrempler nicht bereit, mich 17 Jahre nackt auf einem Stein anketten zu lassen und mich von Moos, Sickerwasser und Asseln zu ernähren. Zumal die Chancen, danach Papst zu werden, inzwischen auch nicht mehr da sind.
Ich bin auch nicht bereit, für einen Stoss mit meiner Sporttasche die betreffende Person zu ehelichen, ins  *********-Restaurant auszuführen, sie nach Guatemala mitzunehmen oder ihr einen Baselitz zu schenken. Meine herzliche, ernstgemeinte Entschuldigung muss genügen.

5.)    Lassen Sie bis 11.00 ihre Wurfzeitung liegen

Neulich betrat ich um 10.30 das Tram Linie 16, in dem ein junger Mann die 20min las. Er war kurz vor dem Aussteigen und auch vor dem Auslesen, weshalb ich ihm einen flehentlichen Blick zusandte, den er aber mit einem Kopfschütteln quittierte. Nun setzte ich zu einem fulminanten Hechtsprung an und stürzte mit einer Flugrolle, die auch ein Stuntman nicht besser hinbekommen hätte, auf die Zeitschrift. Aber der junge Mann zog sie im letzten Moment beiseite und rannte mit ihr aus der Strassenbahn und zum nächsten Abfalleimer: «Papier muss entsorgt werden.»
Das Wegschmeissen von Wurfzeitungen am Vormittag, das angeblich Littering vermeiden soll, ist eine Idee von 20min und BLICK am Abend; es wäre ja sonst möglich, dass mehrere Personen dasselbe Blatt lesen. Seit Einführung des «Bitte werfen Sie Ihre Zeitung weg» sind die Auflagen ins Astronomische gestiegen.

Das ist mein neuer ÖV-Knigge.
Jetzt brauch ich nur noch Videos.
Vielleicht haben Sie Lust die maulende Nichtverzeihende oder den aufspringenden Schusseltrottel zu spielen. Oder die Mithörerin. Oder den Hechtsprung zu machen.
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