Die SSB, die
Stuttgarter Strassenbahnen und die BVB, die Basler Verkehrsbetriebe, werben mit
ganz ähnlichen Videos zurzeit für mehr Rücksicht und Anstand in ihren
Fahrzeugen; Ziel ist es, einen ÖV-Knigge in die Hirne der Fahrgäste zu
meisseln. Es werden dort Dinge wie «Erst aussteigen lassen», «Nicht essen und
trinken», Dinge wie «Nicht laut telefonieren» und «Platz für Kinderwägen»
angemahnt. Wo aber bleiben die Ermahnungen für die Gegenseite? Für die, die
nach landläufiger Meinung immer die Bösen sind?
Daher kommt
er jetzt hier, der Gegen-Knigge, der Anti-Knigge, der Mahnbrief für die
anderen:
1.) Stellen Sie sich fürs Aussteigen an die Tür
Sie alle
kennen die Situation, Sie warten geduldig wie ein Lamm an der Haltestelle, bis
alle Fahrgäste, die das Tram verlassen, ausgestiegen sind. Nun, wenn niemand
mehr kommt, fangen Sie an einzusteigen. Jetzt ertönt ein Schrei, ein Mann
springt von seinem Sitzplatz auf und fängt an, sich seinen Weg durch den Pulk
der Hineinströmenden mit Ellenbogen und Fäusten zu bahnen: «Erst aussteigen
lassen! Erst aussteigen lassen!» Gute Güte! Warum stand er nicht bei den
anderen? Warum bildete mit den anderen Aussteigerinnen und Aussteiger keine
Reihe? Ist er ortsunkundig? Aber die Haltestellen werden ja auch auf einem
Display angezeigt. Ist er illiterat? Wahrscheinlich ist er nur ein normaler
Schusseltrottel, der es einfach nicht hinbekommt, an irgendetwas rechtzeitig zu
denken. Dann soll er auch hocken bleiben bis Endstation. Besonders nett ist
diese Situation in Zügen, dort sehen Sie nämlich nur den Einstiegsbereich, wenn
Sie dann um die Kurve gehen, dann kommt immer noch jemand entgegengeprescht.
Als ob Karlsruhe HBF so plötzlich wie ein Dieb in der Nacht kommt, und sich
nicht irgendwie ankündigen würde (Zugansage, Häuseransammlung, Verdichtung der
Gleise, erreichte Ankunftszeit etc.)
2.) Hören Sie bei Leisetelefonierern nicht mit
Natürlich
ist nervig, wenn der Nachbar oder die Nachbarin ins Handy brüllt, vor allem,
wenn Sie das eigentlich nicht mitbekommen wollen. «Du kriegen deine 50,
verdammt, du kriegen, ich immer gezahlen, kein Stress mache, du kriegen 50…»
(Live-Mitschnitt, ich schwöre) oder «Aber ich liebe dich doch noch, was willst
du bei der Schlampe, ich liebe dich doch!», gefolgt von langem Schluchzen.
Deshalb telefonieren Sie selber ja immer besonders leise. Und jetzt ist es der
Frau gegenüber aber auch nicht recht, sie lässt ihre FRAU MIT HERZ oder ihre
GALA sinken, sie bewegt ihren Kopf in ihre Richtung und fängt an mitzuhören.
Sie reden leiser, die Nachbarinnenohren kommen näher, sie flüstern, die Frau
sitzt jetzt fast auf Ihrem Schoss. Sie beenden Ihr Telefonat mit den Worten
«Du, ich muss Schluss machen..» und die Dame meint pikiert: «Ich konnte gar nix
hören.» Wahrscheinlich ist in ihrem Leben so wenig los, und die Dramen und
Problemgeschichten in FRAU MKIT HERZ und GALA so weit weg, dass sie einfach ein
wenig Drama aus nächster Nähe haben möchte…
3.) Lassen Sie ältere Menschen Wasser trinken
In den
Strassenbahnen und Bussen herrscht Ess- und Trinkverbot. Vermeiden will man
damit, dass die Fahrzeuge vermüllen, dass Saucen und Dips auf die Polster
tropfen und dass es furchtbar stark nach Pommes und Ketchup stinkt. Nun ist es
aber etwas Anderes, wenn eine 87-jährige Person aus einer PET-Flasche Wasser
trinkt. Hier sollte ein 30jähriger – und das habe ich schon erlebt – die
Seniorin oder den Senior nicht anschnauzen: «He, hier ist Trinkverbot!»
Alle alten
Menschen trinken zu wenig, und wenn eine Person über 80 schon daran denkt, sich
im Juli bei 35° (draussen) und 45° (im Tram) ein Mineralwasser ohne Kohlensäure
mitzunehmen, dann sollte man sie lassen. Übrigens EVIAN oder VALSER machen
keine Flecken, ich habe es ausprobiert; und die Geruchsbelästigung hält sich
auch in Grenzen. Und wenn der 99jährige Uropa wirklich seine PET-Flasche
vergisst, dann räumt sie halt ein anderer auf, was soll’s.
4.) Akzeptieren Sie Entschuldigungen
Ich streife
beim Schultern meines Rucksackes eine Dame. «Ich bitte tausendmal um
Entschuldigung», stammele ich. «Hrmpf», antwortet sie. Ich doppele nach: «Es
tut mir leid.» «Sie müssen schon aufpassen»; zischt sie zurück.
Ach du liebe
Zeit! Was erwartet sie? Was soll ich machen? Wahrscheinlich denkt sie an eine
Busse von Gregorianischen Ausmassen. Aber ich bin für einen Rucksackrempler
nicht bereit, mich 17 Jahre nackt auf einem Stein anketten zu lassen und mich
von Moos, Sickerwasser und Asseln zu ernähren. Zumal die Chancen, danach Papst
zu werden, inzwischen auch nicht mehr da sind.
Ich bin auch
nicht bereit, für einen Stoss mit meiner Sporttasche die betreffende Person zu
ehelichen, ins *********-Restaurant
auszuführen, sie nach Guatemala mitzunehmen oder ihr einen Baselitz zu
schenken. Meine herzliche, ernstgemeinte Entschuldigung muss genügen.
5.) Lassen Sie bis 11.00 ihre Wurfzeitung
liegen
Neulich betrat
ich um 10.30 das Tram Linie 16, in dem ein junger Mann die 20min las. Er war
kurz vor dem Aussteigen und auch vor dem Auslesen, weshalb ich ihm einen
flehentlichen Blick zusandte, den er aber mit einem Kopfschütteln quittierte.
Nun setzte ich zu einem fulminanten Hechtsprung an und stürzte mit einer
Flugrolle, die auch ein Stuntman nicht besser hinbekommen hätte, auf die
Zeitschrift. Aber der junge Mann zog sie im letzten Moment beiseite und rannte
mit ihr aus der Strassenbahn und zum nächsten Abfalleimer: «Papier muss
entsorgt werden.»
Das
Wegschmeissen von Wurfzeitungen am Vormittag, das angeblich Littering vermeiden
soll, ist eine Idee von 20min und BLICK am Abend; es wäre ja sonst möglich,
dass mehrere Personen dasselbe Blatt lesen. Seit Einführung des «Bitte werfen
Sie Ihre Zeitung weg» sind die Auflagen ins Astronomische gestiegen.
Das ist mein
neuer ÖV-Knigge.
Jetzt brauch
ich nur noch Videos.
Vielleicht
haben Sie Lust die maulende Nichtverzeihende oder den aufspringenden
Schusseltrottel zu spielen. Oder die Mithörerin. Oder den Hechtsprung zu
machen.
Bewerbungen
unter
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen