Wenn ich am
Stuttgarter Hauptbahnhof stehe und durch die Fenster im Bauzaun auf das riesige
Höllenloch starre, das Höllenloch, das früher einmal Park hiess und das der
neue Bahnhof werden soll, wenn ich also in die Grube blicke und den Stuttgart 21-Wahnsinn
betrachte, dann denke ich: «Heute schlimm, aber irgendwann…»
Denken wir
doch mal ein wenig in die Zukunft:
Die einwöchigen Feierlichkeiten zur
Eröffnung des neuen Stuttgarter Hauptbahnhofes wurden zu einem glanzvollen
Triumph aller, die trotz Bau- und Montageschwierigkeiten, die trotz
Verdreifachung der Kosten, trotz nie aufhörender Proteste immer an den Erfolg
des Projektes Stuttgart 21 geglaubt hatten. Durch das Zusammenarbeiten aller
Kulturinstitutionen der Neckarmetropole entstand eine einzigartige Kunstwoche,
die die Schalterhalle zur Galerie, zur Ballett- und Schauspielbühne, zum
Konzertsaal und zur Oper machten und rund um die Uhr das Thema «Mobilität» von
allen Seiten beleuchtete. Die 7 Tage gipfelten im Zerschneiden des Roten Bandes
durch den Schirmherren der Feierlichkeiten, Bundespräsident Liebreiz und den
Abfahrten der ersten Züge, die sämtlich mit gekrönten und ungekrönten Häuptern
der BRD und des In- und Auslandes besetzt waren.
Dolf Herrmann in der FAZ vom 14. 6. 2037
Jetzt kichern
Sie mal nicht.
Denn
zunächst gilt: Nichts vergisst man so schnell wie Proteste. Die von anderen und
die eigenen; ich will nicht wissen, wie viele Banker im Ruhestand, die ein
Premierenabo des Opernhauses Zürich besitzen, damals an den Opernhauskrawallen
beteiligt waren. Oder nehmen Sie doch mal die Fusion der SWR-Orchester. «Nie
werde ich ein Konzert vom neuen Orchester besuchen!», so tönte es noch vor
einem halben Jahr. Und dann kommt eben doch das Traumkonzert, Mahler III mit
Barenboim, und man hat zwei schlaflose Nächte und dann schleicht man sich zur
Vorverkaufsstelle, den Hut tief ins Gesicht gezogen, um nicht erkannt zu werden
und kauft sich ein Ticket – nein, nicht Reihe 1, wo denken Sie hin, nein,
Galerie letzte Reihe, wo einen niemand sieht! – und dann trifft man am
Konzertabend im Foyer alle die Leute, die auch geschworen hatten, den auf den
Trümmern von Sinfonieorchester Baden-Baden/Freiburg und Radiosymphonieorchester
Stuttgart erbauten Klangkörper ein Leben lang zu boykottieren…
Es gilt aber
auch:
Was
unendlich teuer wird und unendlich lange braucht, kann nicht schlecht werden.
Ab achtstelligen Kosten muss das Ergebnis einfach gut sein, alles andere wäre
ein Offenbarungseid. Ab 20 Jahren Bauzeit muss es einfach ein architektonisches
Wunderwerk sein, sonst kann man sich gleich erschiessen. Machen Sie doch einmal
die Selbstteste: Gehen Sie in ein Restaurant und bestellen Sie das teuerste
Gericht der Karte, irgendwas mit Trüffeln und Kobe, es wird Ihnen munden, auf
jeden Fall. Oder bestellen Sie ein Buch, das, weil es in Neuseeland verlegt und
in Finnland gedruckt wird, Sie zu einer Wartezeit von 17 Wochen zwingt, Sie
werden die Lektüre dieses Romans geniessen wie Sie noch nie einen Roman
genossen haben.
Oder nehmen
wir doch mal den Elphi-Hype. Was so lange nicht fertig wurde, was solche
Unsummen verschlungen hat, was die Stadt dermassen in den Ruin trieb und 45
Nervenzusammenbrüche (in Politik wie im Handwerk) verschuldet hat, was so lange
auf Messers Schneide stand und mehr umgebaut wurde als das Forum Romanum seit
der Antike, ja das kann nur grossartig sein. Finden alle, und alle müssen hin.
Dabei sieht
das Ding von aussen überhaupt nicht schön aus, mal ehrlich; wie ein Zirkuszelt,
das die besoffenen Roadies nicht richtig aufgebaut haben, wie ein
zusammenfallendes Nachthemd hockt es da vor den Speichern der Hafenstadt, zu
denen es passt wie die Faust aufs Auge, ein Spermafleck auf dem Brautkleid oder
die Heilsarmee in den Swingerclub. (Danke an Fräulein Emmy und Herr Wilnowski für die Bereitstellung dieser
wunderbaren Vergleiche.)
Ja, da kann
die Broschüre zigmal von «reizvollem Kontrast» reden, Leuten, die Kontraste per
se reizvoll finden, möchte ich gerne einmal Bratkartoffeln mit Konfitüre
reichen, während ich ihnen die Platte Sido
rappt Hölderlin vorspiele, bei denen würde ich gerne einmal in Shorts und
Tanktop zur Gala erscheinen und einen «reizvollen Kontrast» zu den übrigen
Gästen bilden.
Von innen
ist die Elphi übrigens klasse, da kann man nix sagen. Sagen muss man noch was
zu jenem Konzert, mit dem der Prunkbau eröffnet wurde, vor allem zum Schluss;
selten wurde der 4. Satz der Neunten so schlecht musiziert, zu langsam, zu
laut, zu pompöse, zu gebrüllt und gemeisselt und geholzt. Gerade von
Hengelbrock hätte man doch eine sprachlich phrasierte, durchmodellierte Ode
erwartet,
Freu – de, schö – ner Göt -ter – fun – ken
Stattdessen
jede Silbe wie ein Granit rausgestossen:
Freu – de, schö – ner Göt -ter – fun – ken
Aber ein
solches Konzert an solchem Ort, der so lange bebaut wurde und so viel kostete,
das wird natürlich bejubelt.
Was teuer
war, muss gut sein.
Was lang
braucht, muss gut sein.
Für diesen
Post habe ich übrigens nicht wie sonst 30-50 Minuten, sondern 7 Stunden
benötigt.
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