Freitag, 19. Mai 2017

Warum Werbung für "Öffentliches Konzert"?



Im Tram der Linie 7 stosse ich auf das folgende Plakätlein (eigentlich eher ein aufgehängter Handzettel)

ARTHROSE – MÖGLICHKEITEN DER DIAGNOSE UND THERAPIE
Öffentlicher Vortrag
Prof. Dr. Dr. Janmax Dubinger
Auditorium I der Georg Piller-Klinik, Herzplatz 34
Freitag, 21.4.2017    19.00

Ein paar Reihen weiter prangt noch so ein Machwerk:

DER VERSPIELTE BEETHOVEN
Öffentliches Konzert
Lea Frohsinn, Klavier
Sonntag, 23.4.2017   15.00
Altersheim Grünmatt, An der Wiese 45

Was um Himmels willen bedeutet das «öffentlich»? Natürlich, auf den ersten Blick ist es logisch; die Veranstaltungen sind nicht für Patienten oder Bewohner, sie sind auch für Menschen, die von aussen kommen, oder anders formuliert, auch der oder die von der Strasse ist herzlich eingeladen. Aber auf den zweiten Blick ist es der totalste Schwachsinn. Wenn ein Konzert, ein Referat, wenn eine Party oder ein Tanzfest, wenn Apéro, Brunch oder Abendessen, wenn Spieletag oder Tournier, wenn ein Anlass nicht öffentlich ist, dann hänge ich keine Werbung auf. Die Existenz eines Plakates ist der Beweis für die Publizität einer Veranstaltung, es ist also das himmeltraurigste Doppelmoppel, dass ein Flyer auf eine Tatsache hinweist, der er sein Dasein verdankt. Es gibt keine Hinweise auf Konzerte oder Vorträge, denen man fernbleiben soll, oder wenn, dann nur im Cartoon:

GÜNTER GRASS LIEST HEUTE IM KULTURCAFÉ
und will dabei nicht gestört werden
(Rattelschneck)

Ich hirne eine Weile, was die Veranstalter sich dabei gedacht haben. Vielleicht, so denke ich habe sie zu viele Habermas gelesen und gehen vom in Strukturwandel der Öffentlichkeit dargelegten Öffentlichkeitsbegriff aus, ich verwerfe diese Idee aber sofort wieder. Ist hier das pejorative öffentlich gemeint, so wie in «öffentliche Person» oder «öffentliche Orte»? Sicher nicht. Um das Geheimnis zu lüften, fotografiere ich – iPhone sei Dank – die beiden Flyer und beschliesse, zu Vortrag und Konzert hinzugehen.

Die Georg Piller-Klinik ist ein schmucker Neubau im Stadtteil Hurlikon, dessen beide Auditorien dank weisser Wände und grosser Glasfenster mit Blick auf die Sträucher im Park einen freundlichen und netten Eindruck machen. Der Saal ist schon gut gefüllt, als ich ankomme, und alle ca. 50 Augenpaare ruhen sofort auf mir. Ich kann die Gedanken förmlich hören: Wer ist das? Ein Patient ist er nicht, so federnd wie der reinläuft, so sportlich wippend, der hat mit Sicherheit keine Arthrose, er ist aber auch kein Pfleger und kein Arzt, die würden wir kennen. Vielleicht gab es in seiner Familie viele Fälle dieser Krankheit und er will sich mal informieren; ansonsten: WAS MACHT DER HIER?
Der einstündige Vortrag ist informativ und wissenschaftlich fundiert, man merkt dem Orthopäden Dubinger an, dass er sich leidenschaftlich mit diesem Leiden beschäftigt hat. (s.v.i.v.) Dennoch flüchte ich 5 Minuten vor Ende aus dem Auditorium, um blöden Fragen zu entgehen.

Das Gleiche spielt sich beim Konzert zwei Tage später ab; der Saal ist ein Schmuckstück, eine nette kleine Bühne, bequeme Stühle und indirekt beleuchtete Wände, Lea Frohsinn spielt, wie sie heisst, sie musiziert einen klaren, heiteren Reigen, u.a. mit der Wut über den verlorenen Groschen, den Bagatellen und einigen der kleinen Sonaten. Mich aber starren die Bewohnerinnen und Bewohner an, zum Teil sicher, weil sie so dement sind, dass sie niemand mehr erkennen, zum Teil aber, weil sie sich die Fragen wie oben stellen: Wer ist der, Pfleger ist er nicht, er ist kein Bewohner und er hat keinen Angehörigen hier… Ich fühle mich genauso unwohl, ich schleiche mich vor der Zugabe, den Variationen über «Schöne Minka» hinaus.

Natürlich habe ich sowohl in der Klinik als auch im Altersheim falsch gehandelt. Ich hätte das Foto zeigen sollen und laut schreien: «Schaut her, ihr Deppinnen und Deppen! Diese Veranstaltung ist ÖFFENTLICH! Ich habe ein Recht hier zu sein!»

Und jetzt begreife ich die Plakate, die Plakate geben dem oder der externen Besucher(in) etwas in die Hand, das seine oder ihre Anwesenheit legitimiert.

Die Frage stellt sich natürlich, warum man solche Konzerte, Lesungen, warum man solche Vorträge und Referate, warum man solche Feiern, Vernissagen und Anlässe öffentlich bekanntmacht. Wer hockt da in den Gremien und Vorständen, der auf einmal losbrüllt: «Ich habe eine Superidee – wir machen das ÖFFENTLICH, mit Plakat und so…!» Wer überlegt sich da nicht, dass der oder die einzige Externe sich vorkommt, wie der ungeliebte schwule Lebenspartner auf dem 80. Geburtstag von Missionar Elder James, wie der einzige Zürichfan im Braunen Mutz bei der Grossleinwandübertragung des Endspiels FCB/FCZ?
Ich weiss es nicht.

Eines jedoch ist klar: Die Zeit spielt für mich. In 30 Jahren falle ich weder beim Arthrosereferat noch beim Klavierkonzert in der Seniorenresidenz auf.

P.S. s.v.i.v. heisst übrigens sic veniat ioco verborum, man verzeihe das Wortspiel

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