Montag, 1. Mai 2017

Der Bücherbär ist immer auf der Suche

Ein Nachtrag zum Welttag des Buches am 23. April:



Ein lesesüchtiger Mensch wie ich ist immer auf der Suche nach Stoff. Wie einem Junkie, einem Alki, wie einem Drögeler oder einem Tablettenabhängigen bricht ihm der Schweiss aus, er fängt an zu zittern, er bekommt Magenkrämpfe und Fieberschübe, wenn er nicht ständig mit Stoff versorgt wird. Hat er – was zum Glück selten vorkommt – auf einer Reise sein Buch vergessen, dann greift er zu den schlimmsten Dingen, er fängt an, VIA, das Magazin der SBB, zu lesen, oder (viel schlimmer) MOBIL, das unerträglich dämliche Pendant der DB. Er beginnt dann, nachdem er VIA oder MOBIL durchgearbeitet hat, die Abfalleimer des Zuges nach Resten von FAZ oder SÜDDEUTSCHE zu durchwühlen und muss wahrscheinlich in Frankfurt oder Zürich die Fahrt unterbrechen, um sich mit letzter Kraft in die Bahnhofsbuchhandlung zu schleppen. Dort bricht er erst einmal zusammen und wird – hoffentlich – von einer geschulten Buchhändlerin notversorgt.

Aber auch in normalen Zeiten ist der Büchersüchtige immer auf der Pirsch nach Stoff. Denn die Frage «was lese ich heute?» ist ja belanglos gegenüber dem schwerwiegenderen «was lese ich morgen?». Da gibt es nun Zeiten, wo alle Lieblingsautoren publizieren oder die Verlage gerade Übersetzungen auf den Markt werfen, Zeiten, in denen in der gleichen Woche ein neuer McEwan, ein neuer Suter, in denen termingleich ein neuer Dobelli, ein neuer Bärfuss und ein neuer Jonasson auf den Tisch kommen, Zeiten also, die wie ein Rausch sind, wie eine Überschwemmung oder eine Lawine. Gleichzeitig im Geschäft alle diese Neuerscheinungen zu finden, ist wie wenn ein Alki im Weinkeller eingesperrt wird oder ein Drögeler 10 kg Heroin ergattert.

Dann gibt es aber die Zeiten, wo alle Schriftstellerinnen und Schriftsteller sich in eine kreative Pause zurückgezogen haben, Capus schweigt und Nothomb schweigt und Dörrie meditiert und viele andere sind in Urlaub. Nun geht der Lesebär – ich bin keine Ratte! – auf Jagd nach Neuem, Unentdecktem, nach neuen Namen und Verlagen.
Und wie jedes Tier habe ich mir so diverse Strategien zurechtgelegt, um auf Autorinnen und Autoren zu stossen.
Manchmal durchwühle ich mit meinen Bärentatzen einfach die Mängelexemplarkiste, die vor den Kettenbuchläden auf der Strasse steht. Bei 4.90.- kann man nicht so viel falsch machen. Und wenn ich dann wirklich eine Entdeckung gemacht habe, renne ich zu Olymp&Hades und bestelle bei Yvonne (ja, wir sind jetzt endlich per du) die restlichen Werke der Schreiberin oder des Schreibers. Kathrin Röggla habe ich auf diese Weise entdeckt, Walter Kauer (genialer Schweizer Linker, leider viel zu früh gestorben) und viele andere…
Es kann aber auch hilfreich sein, Bücher einmal nach einem nichtliterarischen Kriterium in die Hand zu nehmen. Da schaut man sich z.B. nur gelbe Bücher an, oder nur welche, die ein Haus auf dem Cover haben, oder – dies tat ich eine Weile – Bücher mit einsilbigem Titel. So stapelten sich bei mir zuhause LICHT, ELF, KNIRSCH, stapelten sich PLÜSCH und WIR, und natürlich jenes epochale ZWÖLF, ein Drogenroman, der mit dem Satz beginnt
White Mike ist dünn und blass wie Rauch.

Dies bringt uns aber zur entscheidenden Methode: Ich lese jedes Buch am Anfang an, lese dann zwei Seiten in der Mitte und schliesslich ein paar am Schluss. Denn was nützt mir ein guter erster Satz, wenn die restlichen 6895 Sätze schwach sind, was nützt mir ein nobelpreisverdächtiges erstes Kapitel, wenn die 13 weiteren nicht einmal den «Jugend schreibt»-Preis der Stadt Bottrop gewinnen würden. Häufig haben nämlich auch die Lektorinnen und Lektoren nur das erste Kapitel und das Exposé gelesen, zumindest VOR Vertragsabschluss.

Ein büchersüchtiger Lesebär ist also immer auf der Suche.
Natürlich gibt es Leseersatzhandlungen, Sachen wie Patiencen legen, Bügeln oder Küche putzen, gibt es Dinge wie Kaffee machen oder Masturbieren, oder Beschäftigungen wie Surfen oder WhatsAppen. Die gehen aber oft nur zuhause. Haben Sie schon einmal probiert, in einem Bistrot einen Sechsertisch zu belegen, um dann einen Kaffee zu bestellen und mit einer Patience zu beginnen? Da müssen Sie starke Nerven haben, um den mordlustigen Blicken des Servicepersonals auszuweichen. Haben Sie schon mal versucht, im ICE zu bügeln? Und was das Freibad betrifft, da weht es Ihnen die Karten davon, Sie haben kein WLAN, und die Beschäftigung mit den eigenen Genitalien ist schlicht und einfach verboten, da haben Sie nicht nur Badiverbot, sondern auch eine Anzeige am Hals.  

Nein, ein Bücherbär – ich bin keine Ratte, habe ich das schon erwähnt? – muss lesen, lesen, lesen, er braucht Stoff, braucht seine Droge, er muss Romane, Erzählungen, Kurzgeschichten haben, er muss Krimis und Lovestorys und Novellen besitzen, ist das nicht greifbar, verschlingt er Tagebücher, Essays, vertilgt er Reiseberichte und Biographien.
Dafür ist er sonst genügsam, er kann 30 Minuten aufs Atmen verzichten, wochenlang nichts essen und etliche Tage aufs Trinken pfeifen.

Im Fundevogel, jener herrlichen Kinderbuchhandlung in der Freiburger Altstadt, hängt ein Plakat mit der Aufschrift
LIEBER BARFUSS ALS OHNE BUCH

Der Bücherbär (ich bin keine…) kann das voll unterschreiben.

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