Ein
lesesüchtiger Mensch wie ich ist immer auf der Suche nach Stoff. Wie einem
Junkie, einem Alki, wie einem Drögeler oder einem Tablettenabhängigen bricht
ihm der Schweiss aus, er fängt an zu zittern, er bekommt Magenkrämpfe und
Fieberschübe, wenn er nicht ständig mit Stoff versorgt wird. Hat er – was zum
Glück selten vorkommt – auf einer Reise sein Buch vergessen, dann greift er zu
den schlimmsten Dingen, er fängt an, VIA, das Magazin der SBB, zu lesen, oder
(viel schlimmer) MOBIL, das unerträglich dämliche Pendant der DB. Er beginnt
dann, nachdem er VIA oder MOBIL durchgearbeitet hat, die Abfalleimer des Zuges
nach Resten von FAZ oder SÜDDEUTSCHE zu durchwühlen und muss wahrscheinlich in
Frankfurt oder Zürich die Fahrt unterbrechen, um sich mit letzter Kraft in die
Bahnhofsbuchhandlung zu schleppen. Dort bricht er erst einmal zusammen und wird
– hoffentlich – von einer geschulten Buchhändlerin notversorgt.
Aber auch in
normalen Zeiten ist der Büchersüchtige immer auf der Pirsch nach Stoff. Denn
die Frage «was lese ich heute?» ist ja belanglos gegenüber dem
schwerwiegenderen «was lese ich morgen?». Da gibt es nun Zeiten, wo alle
Lieblingsautoren publizieren oder die Verlage gerade Übersetzungen auf den
Markt werfen, Zeiten, in denen in der gleichen Woche ein neuer McEwan, ein
neuer Suter, in denen termingleich ein neuer Dobelli, ein neuer Bärfuss und ein
neuer Jonasson auf den Tisch kommen, Zeiten also, die wie ein Rausch sind, wie
eine Überschwemmung oder eine Lawine. Gleichzeitig im Geschäft alle diese Neuerscheinungen
zu finden, ist wie wenn ein Alki im Weinkeller eingesperrt wird oder ein
Drögeler 10 kg Heroin ergattert.
Dann gibt es
aber die Zeiten, wo alle Schriftstellerinnen und Schriftsteller sich in eine
kreative Pause zurückgezogen haben, Capus schweigt und Nothomb schweigt und
Dörrie meditiert und viele andere sind in Urlaub. Nun geht der Lesebär – ich
bin keine Ratte! – auf Jagd nach Neuem, Unentdecktem, nach neuen Namen und
Verlagen.
Und wie
jedes Tier habe ich mir so diverse Strategien zurechtgelegt, um auf Autorinnen
und Autoren zu stossen.
Manchmal
durchwühle ich mit meinen Bärentatzen einfach die Mängelexemplarkiste, die vor
den Kettenbuchläden auf der Strasse steht. Bei 4.90.- kann man nicht so viel
falsch machen. Und wenn ich dann wirklich eine Entdeckung gemacht habe, renne
ich zu Olymp&Hades und bestelle bei Yvonne (ja, wir sind jetzt endlich per
du) die restlichen Werke der Schreiberin oder des Schreibers. Kathrin Röggla
habe ich auf diese Weise entdeckt, Walter Kauer (genialer Schweizer Linker,
leider viel zu früh gestorben) und viele andere…
Es kann aber
auch hilfreich sein, Bücher einmal nach einem nichtliterarischen Kriterium in
die Hand zu nehmen. Da schaut man sich z.B. nur gelbe Bücher an, oder nur
welche, die ein Haus auf dem Cover haben, oder – dies tat ich eine Weile –
Bücher mit einsilbigem Titel. So stapelten sich bei mir zuhause LICHT, ELF,
KNIRSCH, stapelten sich PLÜSCH und WIR, und natürlich jenes epochale ZWÖLF, ein
Drogenroman, der mit dem Satz beginnt
White Mike ist dünn und blass wie Rauch.
Dies bringt
uns aber zur entscheidenden Methode: Ich lese jedes Buch am Anfang an, lese
dann zwei Seiten in der Mitte und schliesslich ein paar am Schluss. Denn was
nützt mir ein guter erster Satz, wenn die restlichen 6895 Sätze schwach sind,
was nützt mir ein nobelpreisverdächtiges erstes Kapitel, wenn die 13 weiteren
nicht einmal den «Jugend schreibt»-Preis der Stadt Bottrop gewinnen würden.
Häufig haben nämlich auch die Lektorinnen und Lektoren nur das erste Kapitel
und das Exposé gelesen, zumindest VOR Vertragsabschluss.
Ein
büchersüchtiger Lesebär ist also immer auf der Suche.
Natürlich
gibt es Leseersatzhandlungen, Sachen wie Patiencen legen, Bügeln oder Küche
putzen, gibt es Dinge wie Kaffee machen oder Masturbieren, oder Beschäftigungen
wie Surfen oder WhatsAppen. Die gehen aber oft nur zuhause. Haben Sie schon
einmal probiert, in einem Bistrot einen Sechsertisch zu belegen, um dann einen
Kaffee zu bestellen und mit einer Patience zu beginnen? Da müssen Sie starke
Nerven haben, um den mordlustigen Blicken des Servicepersonals auszuweichen.
Haben Sie schon mal versucht, im ICE zu bügeln? Und was das Freibad betrifft,
da weht es Ihnen die Karten davon, Sie haben kein WLAN, und die Beschäftigung
mit den eigenen Genitalien ist schlicht und einfach verboten, da haben Sie
nicht nur Badiverbot, sondern auch eine Anzeige am Hals.
Nein, ein
Bücherbär – ich bin keine Ratte, habe ich das schon erwähnt? – muss lesen,
lesen, lesen, er braucht Stoff, braucht seine Droge, er muss Romane, Erzählungen,
Kurzgeschichten haben, er muss Krimis und Lovestorys und Novellen besitzen, ist
das nicht greifbar, verschlingt er Tagebücher, Essays, vertilgt er
Reiseberichte und Biographien.
Dafür ist er
sonst genügsam, er kann 30 Minuten aufs Atmen verzichten, wochenlang nichts
essen und etliche Tage aufs Trinken pfeifen.
Im
Fundevogel, jener herrlichen Kinderbuchhandlung in der Freiburger Altstadt,
hängt ein Plakat mit der Aufschrift
LIEBER BARFUSS ALS OHNE BUCH
Der
Bücherbär (ich bin keine…) kann das voll unterschreiben.
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