Ich sitze an meinem Schreibtisch, schaue auf die Liste und
bin am Grübeln. Vielleicht, so denke ich, vielleicht hätte ich den Auftrag
nicht annehmen sollen. Ich habe mich bereit erklärt, am Montag den Samichlaus
zu machen (die Primarschulen müssen am 7.12. nachholen, weil der 6.12. auf
einen Sonntag fällt.) Ich habe mich bereit erklärt, im Schulhaus Binningen den
Nikolaus zu spielen und nun brüte ich über den Aufzeichnungen, die mir Frau
Büssler, die Lehrerin, gegeben hat.
Vor allem drei Kinder machen mich stutzig:
Daniel:
Positiv: Aufgeweckt,
fröhlich, macht mit, gutes Sozialverhalten
Negativ: Vorlaut und
frech
Marco:
Positiv: Ruhiger,
stiller und konzentrierter Arbeiter
Negativ: Wehleidig,
weint ständig
Tatjana:
Positiv: Sehr reif,
verantwortungsvoll, übernimmt Führungspositionen
Negativ:
Tussi-Verhalten, sich aufspielen
Nun ja.
Es ist ja nun so, dass gewisse Eigenschaften stets
zusammenhängen und man bestimmte Sachen stets mit zwei Wörtern benennen kann.
Ist jemand sparsam oder geizig? Ist jemand ordentlich oder pedantisch?
Organisiert oder Kontrollfreak? Spontan oder Unvorbereitet? Aber auch Dinge,
die nicht automatisch das Gleiche heissen, hängen oft zusammen. Spontane
Menschen sind häufig nicht gerade ordentlich und schöne Menschen sind manchmal
auch eitel.
Man nennt das die KEHRSEITE DER MEDAILLE.
Aber abgesehen davon, mich interessieren nun die drei
Kinder. Ich rufe Frau Büssler an und frage nach.
Daniel, sagt sie, ach der Daniel, der widerspreche ihr
einfach immer, ständig rufe er etwas dazwischen, da hätten sie die Hauptstädte
durchgenommen, und sie habe JOHANNESBURG, RIO und NEW YORK an die Tafel
geschrieben, und der freche Kerl habe sofort dazwischen gebrüllt, es seien
PRETORIA, BRASILIA und WASHINGTON. Das gehe doch einfach nicht.
Und der Marco, der sei einfach eine Heulsuse. Im
Sportunterricht gehe es halt öfters ein wenig rau zu. Da werde halt mal aus
Versehen ein bisschen gerempelt, gestossen, da falle man halt einmal hin und
schlage sich das Knie auf, und als er neulich beim Völkerball den Ball ins
Gesicht bekommen habe, habe er eine halbe Stunde geweint. Gut, der Zahn sei
hinterher ein wenig locker gewesen, aber es war ja zum Glück ein Milchzahn. Die
Mitschüler machten das sicher nicht aus Absicht.
Ja, und die Tatjana, die sei halt eine dreifache Repetentin,
also nicht 9 wie die anderen sondern eben schon 12, aber wie die aussehe!
Geschminkt! Sie sage nur: Geschminkt! Und immer so aufreizende Klamotten…
Ich sehe die Youngsters förmlich vor mir:
Daniel, rotwangig und strubbelhaarig, der als interessiertes
und aufgestelltes Bürschlein natürlich die Krise bekommt ob der Falschinfo, die
da an die Wandtafel geschmiert wird.
Marco, blass, hager, scheu, klassisches Opfer, dem man
natürlich MIT ABSICHT ein Bein stellt und ihn in Visage und Weichteile schiesst.
Und Tatjana, aufgeschossen, gross, schon Busen, völlig
verunsichert ob der körperlichen Veränderungen, die keine der Mitschülerinnen
genauso mitmacht.
Nun kann ich doch meinen Mund nicht halten und sage Frau
Büssler barsch, dass die von Daniel korrigierte Geographieaussagen tatsächlich
höherer Blödsinn seien, Pretoria SEI die Hauptstadt und nicht Johannesburg,
Brasilia SEI die Hauptstadt und nicht Rio, und wenn Sie wirklich meine, dass
Obama am Times Square residiere, sei sie dümmer als die Polizei erlaube. Und
wenn sie nicht in der Lage sei, zu bemerken, dass Marco ein Mobbingopfer sei,
der unter dem Deckmäntelchen sportlichen Ehrgeizes bis aus Blut geplagt werde,
habe sie ihren Beruf verfehlt.
Und Tatjana? Für sie müsse doch auch eine Lösung gefunden
werden. Das Mädchen sei in der Vorpubertät, und das sei es normal, dass man
auch Schminke, Rouge und Puder ausprobiert und es gehe doch nicht an, dass sie
jetzt jahrelang das 3-Jahre-älter-Mädchen bleibe.
Sie habe einen Samichlaus engagiert, antwortet die gute
Frau, keinen Sozialarbeiter, Psychologen, Therapeuten oder sonst einen Spinner.
Der Samichlaus lese die Liste vor und verteile Mandarinen und Nüsse und Schoggi
und halte sonst den Mund.
Ich weiss nun, was ich zu tun habe. Zum Glück kenne ich den
Schulleiter und zum Glück habe ich noch was gut bei ihm. Ein einziger Anruf
genügt.
Nun bekommen Marco und Daniel und Tatjana und auch alle
anderen Schülerinnen und Schüler der Klasse das schönste Geschenk vom Nikolaus,
das man sich wünschen könnte:
Eine neue Klassenlehrerin.
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