Freitag, 4. Dezember 2015

Nikolaus als Psychologe



Ich sitze an meinem Schreibtisch, schaue auf die Liste und bin am Grübeln. Vielleicht, so denke ich, vielleicht hätte ich den Auftrag nicht annehmen sollen. Ich habe mich bereit erklärt, am Montag den Samichlaus zu machen (die Primarschulen müssen am 7.12. nachholen, weil der 6.12. auf einen Sonntag fällt.) Ich habe mich bereit erklärt, im Schulhaus Binningen den Nikolaus zu spielen und nun brüte ich über den Aufzeichnungen, die mir Frau Büssler, die Lehrerin, gegeben hat.
Vor allem drei Kinder machen mich stutzig:

Daniel:
Positiv: Aufgeweckt, fröhlich, macht mit, gutes Sozialverhalten
Negativ: Vorlaut und frech
Marco:
Positiv: Ruhiger, stiller und konzentrierter Arbeiter
Negativ: Wehleidig, weint ständig
Tatjana:
Positiv: Sehr reif, verantwortungsvoll, übernimmt Führungspositionen
Negativ: Tussi-Verhalten, sich aufspielen

Nun ja.
Es ist ja nun so, dass gewisse Eigenschaften stets zusammenhängen und man bestimmte Sachen stets mit zwei Wörtern benennen kann. Ist jemand sparsam oder geizig? Ist jemand ordentlich oder pedantisch? Organisiert oder Kontrollfreak? Spontan oder Unvorbereitet? Aber auch Dinge, die nicht automatisch das Gleiche heissen, hängen oft zusammen. Spontane Menschen sind häufig nicht gerade ordentlich und schöne Menschen sind manchmal auch eitel.
Man nennt das die KEHRSEITE DER MEDAILLE.

Aber abgesehen davon, mich interessieren nun die drei Kinder. Ich rufe Frau Büssler an und frage nach.
Daniel, sagt sie, ach der Daniel, der widerspreche ihr einfach immer, ständig rufe er etwas dazwischen, da hätten sie die Hauptstädte durchgenommen, und sie habe JOHANNESBURG, RIO und NEW YORK an die Tafel geschrieben, und der freche Kerl habe sofort dazwischen gebrüllt, es seien PRETORIA, BRASILIA und WASHINGTON. Das gehe doch einfach nicht.
Und der Marco, der sei einfach eine Heulsuse. Im Sportunterricht gehe es halt öfters ein wenig rau zu. Da werde halt mal aus Versehen ein bisschen gerempelt, gestossen, da falle man halt einmal hin und schlage sich das Knie auf, und als er neulich beim Völkerball den Ball ins Gesicht bekommen habe, habe er eine halbe Stunde geweint. Gut, der Zahn sei hinterher ein wenig locker gewesen, aber es war ja zum Glück ein Milchzahn. Die Mitschüler machten das sicher nicht aus Absicht.
Ja, und die Tatjana, die sei halt eine dreifache Repetentin, also nicht 9 wie die anderen sondern eben schon 12, aber wie die aussehe! Geschminkt! Sie sage nur: Geschminkt! Und immer so aufreizende Klamotten…

Ich sehe die Youngsters förmlich vor mir:
Daniel, rotwangig und strubbelhaarig, der als interessiertes und aufgestelltes Bürschlein natürlich die Krise bekommt ob der Falschinfo, die da an die Wandtafel  geschmiert wird.
Marco, blass, hager, scheu, klassisches Opfer, dem man natürlich MIT ABSICHT ein Bein stellt und ihn in Visage und Weichteile schiesst.
Und Tatjana, aufgeschossen, gross, schon Busen, völlig verunsichert ob der körperlichen Veränderungen, die keine der Mitschülerinnen genauso mitmacht.

Nun kann ich doch meinen Mund nicht halten und sage Frau Büssler barsch, dass die von Daniel korrigierte Geographieaussagen tatsächlich höherer Blödsinn seien, Pretoria SEI die Hauptstadt und nicht Johannesburg, Brasilia SEI die Hauptstadt und nicht Rio, und wenn Sie wirklich meine, dass Obama am Times Square residiere, sei sie dümmer als die Polizei erlaube. Und wenn sie nicht in der Lage sei, zu bemerken, dass Marco ein Mobbingopfer sei, der unter dem Deckmäntelchen sportlichen Ehrgeizes bis aus Blut geplagt werde, habe sie ihren Beruf verfehlt.
Und Tatjana? Für sie müsse doch auch eine Lösung gefunden werden. Das Mädchen sei in der Vorpubertät, und das sei es normal, dass man auch Schminke, Rouge und Puder ausprobiert und es gehe doch nicht an, dass sie jetzt jahrelang das 3-Jahre-älter-Mädchen bleibe.

Sie habe einen Samichlaus engagiert, antwortet die gute Frau, keinen Sozialarbeiter, Psychologen, Therapeuten oder sonst einen Spinner. Der Samichlaus lese die Liste vor und verteile Mandarinen und Nüsse und Schoggi und halte sonst den Mund.

Ich weiss nun, was ich zu tun habe. Zum Glück kenne ich den Schulleiter und zum Glück habe ich noch was gut bei ihm. Ein einziger Anruf genügt.
Nun bekommen Marco und Daniel und Tatjana und auch alle anderen Schülerinnen und Schüler der Klasse das schönste Geschenk vom Nikolaus, das man sich wünschen könnte:

Eine neue Klassenlehrerin.

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