Dienstag, 15. Dezember 2015

Fahrplanwechsel und Tante-Emma-Syndrom



Montag, den 14.12., 6.30
Der Kondukteur prüft den Fahrschein der älteren Dame in schicker Weisshaarfrisur und Kunstpelzmantel: „In Biel bitte umsteigen.“ Die Dame fährt sich nervös durch ihre weissen Locken und fragt ein wenig verunsichert: „Der Zug fährt nicht nach Lausanne?“ „Nein, seit gestern nicht mehr. Biel Gleis 5, das ist das Gleis gegenüber.“ Als der Kondukteur weitergezogen ist, werde ich der Adressat ihres Redeschwalles: Das hätte ihr doch jemand sagen müssen, gut sie habe ihre Karte am Automaten gelöst, aber das habe man überhaupt nicht bekanntgegeben, ausserdem wieso strichen die jetzt die Verbindung ins Waadtland , die würde soooooo extrem häufig genutzt, also sie selber natürlich nicht, sie fahre ja wenig Zug, aber sooooo viele ihrer Bekannten führen die Strecke…“
Ich lächle und denke mir meinen Teil.

Denke z.B., dass der Fahrplanwechsel am 13.12.2015 von der SBB wirklich exzellent kommuniziert worden ist, da hat man Faltblätter ausgelegt, da gab es alles im Internet, da stand es auf den Abfahrtstafeln und auf den Gleisanzeigen und seit dem 1.12. wurde es in fast jedem Zug angesagt. Natürlich wäre es schön gewesen, wenn der SBB-CEO persönlich auf eine Tasse Kaffee vorbeigekommen wäre, um mich über alle Änderungen zu informieren, er hätte auch meine Weihnachtsplätzchen probieren dürfen, aber bei mehreren Millionen Fahrgästen hätte er die
CEO-stellt-Ihnen-neuen- Fahrplan-vor-Aktion schon 2002 beginnen müssen.
Und die „Benachteiligung von Basel“? Gut, die Rheinkniemetropole verliert zwei Verbindungen: Die Schnellzüge auf der Birstalstrecke fahren nur noch bis Biel und die Anbindung an den Airport Zürich hat sich auch verschlechtert. Aber es wurden ja Fahrtgastbefragungen durchgeführt, und ich denke, wie ich die SBB kenne, wurden diese auch seriös und korrekt vollzogen. Und das Ergebnis war eben komischerweise, dass die Strecken Basel-Lausanne, Basel-Genf, sowie Basel-Zürich Flughafen zu wenig genutzt werden. (Das Verlangen nach Züri Ärpoort nimmt z.B. mit dem Ausbau des Euroairports Basel/Muhlouse/Freiburg konstant ab, wer vom Sundgau nach Berlin kommt, muss das nicht mehr von Zürich aus machen)

Und hier kommt wieder die ältere Dame in ihrem Kunstpelzmantel und mit ihrer Weisshaarkurzfrisur ins Spiel. Sooooooo viele Bekannte scheinen die Strecke nicht genutzt zu haben, sooooooo viele ihrer Freundinnen und Freunde scheinen nicht nach Lausanne getravelt oder nach Genève gereist zu sein, oder die Betreffenden waren stets auf der Toilette, wenn die Befragerin vorbeikam.

Die Dame leidet unter dem Tante-Emma-Syndrom.
Sie alle kennen das: Da macht, nach Jahren des Darbens und Herumkrebsens, nach gefühlten Aionen von Roten Zahlen der Tante-Emma-Laden im Dorf oder Quartier dicht. Und auf einmal ist das Geschrei gross: Man habe stets bei Emma eingekauft, man sei soooooo viel vorbeigekommen, man habe das Lädchen sooooo unterstützt, und nun das. Zugegeben, man habe vor allem das dort geholt, was man im ALDI, im DENNER, was man im EDEKA und im COOP vergessen habe, aber etwas habe man dort immer gekauft. Dass Tante Emma von der im DENNER nicht mitgenommenen Milch, von der Butter, an die man im COOP nicht gedacht hat, von der Cola, auf die man spontan Lust bekommt und den Sonntagmorgenbrötchen nicht leben kann, daran denkt niemand.

Auf den Punkt gebracht heisst das Tante-Emma-Syndrom: Wir verkennen die Frequenz, mit der eine Sache genutzt wurde, in dem Moment, in dem sie abgeschafft wird.

Wenn die Gemeinde Guggiswil ihr Museum für Ur- und Frühgeschichte abschafft, besteht das ganze Dorf auf einmal nur noch aus Hobbypaläontologen, die Zeter und Mordio schreien.
Wenn die Pfarrei St. Munizius in Herbstetten keinen Priester mehr bekommt, besteht der ganze Ort auf einmal auf frömmsten Katholiken, die praktisch ihr ganzen Leben zwischen Taufstein, Altar und Tabernakel verbracht haben.
Wenn der Wanderclub Frohsinn Murgen e.V. sich auflöst, haben auf einmal bei jeder Monatswanderung ca. 4800 Leute teilgenommen, komisch, das das Apérogebäck immer gereicht hat…

Nein, die gute Dame muss das schlucken, was einfach Tatsache ist: Basel verlor auf den 13.12.2015 zwei Verbindungen, und zwar NICHT, weil man Basel immer mobbt, NICHT, weil andere Regionen immer bevorzugt werden, NICHT, weil pure Willkür herrscht, sondern weil die Strecken schlicht und einfach ZU WENIG GENUTZT WURDEN.
Aus dem umgekehrten Grund wird z.B. Solothurn-Burgdorf intensiviert , eben weil viele Leute dort gefahren sind, und zwar den ganzen Tag, nicht nur zu den Stosszeiten.

Also gehen Sie doch im neuen Jahr mal wieder wandern, gehen Sie in die Kirche und kaufen Sie doch ihre GANZEN Festtagseinkäufe bei Tante Emma.
Oder jammern Sie nicht, wenn es auf einmal keinen Laden, keinen Priester und keinen Wanderclub mehr gibt.
Oder wenn Sie auf dem Weg an den Genfersee jetzt in Olten umsteigen müssen...

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