Montag, den 14.12., 6.30
Der Kondukteur prüft den Fahrschein der älteren Dame in
schicker Weisshaarfrisur und Kunstpelzmantel: „In Biel bitte umsteigen.“ Die
Dame fährt sich nervös durch ihre weissen Locken und fragt ein wenig
verunsichert: „Der Zug fährt nicht nach Lausanne?“ „Nein, seit gestern nicht
mehr. Biel Gleis 5, das ist das Gleis gegenüber.“ Als der Kondukteur
weitergezogen ist, werde ich der Adressat ihres Redeschwalles: Das hätte ihr
doch jemand sagen müssen, gut sie habe ihre Karte am Automaten gelöst, aber das
habe man überhaupt nicht bekanntgegeben, ausserdem wieso strichen die jetzt die
Verbindung ins Waadtland , die würde soooooo extrem häufig genutzt, also sie
selber natürlich nicht, sie fahre ja wenig Zug, aber sooooo viele ihrer
Bekannten führen die Strecke…“
Ich lächle und denke mir meinen Teil.
Denke z.B., dass der Fahrplanwechsel am 13.12.2015 von der
SBB wirklich exzellent kommuniziert worden ist, da hat man Faltblätter
ausgelegt, da gab es alles im Internet, da stand es auf den Abfahrtstafeln und
auf den Gleisanzeigen und seit dem 1.12. wurde es in fast jedem Zug angesagt. Natürlich
wäre es schön gewesen, wenn der SBB-CEO persönlich auf eine Tasse Kaffee
vorbeigekommen wäre, um mich über alle Änderungen zu informieren, er hätte auch
meine Weihnachtsplätzchen probieren dürfen, aber bei mehreren Millionen
Fahrgästen hätte er die
CEO-stellt-Ihnen-neuen- Fahrplan-vor-Aktion schon 2002
beginnen müssen.
Und die „Benachteiligung von Basel“? Gut, die
Rheinkniemetropole verliert zwei Verbindungen: Die Schnellzüge auf der Birstalstrecke
fahren nur noch bis Biel und die Anbindung an den Airport Zürich hat sich auch
verschlechtert. Aber es wurden ja Fahrtgastbefragungen durchgeführt, und ich
denke, wie ich die SBB kenne, wurden diese auch seriös und korrekt vollzogen.
Und das Ergebnis war eben komischerweise, dass die Strecken Basel-Lausanne,
Basel-Genf, sowie Basel-Zürich Flughafen zu wenig genutzt werden. (Das
Verlangen nach Züri Ärpoort nimmt z.B. mit dem Ausbau des Euroairports
Basel/Muhlouse/Freiburg konstant ab, wer vom Sundgau nach Berlin kommt, muss
das nicht mehr von Zürich aus machen)
Und hier kommt wieder die ältere Dame in ihrem
Kunstpelzmantel und mit ihrer Weisshaarkurzfrisur ins Spiel. Sooooooo viele
Bekannte scheinen die Strecke nicht genutzt zu haben, sooooooo viele ihrer
Freundinnen und Freunde scheinen nicht nach Lausanne getravelt oder nach Genève
gereist zu sein, oder die Betreffenden waren stets auf der Toilette, wenn die
Befragerin vorbeikam.
Die Dame leidet unter dem Tante-Emma-Syndrom.
Sie alle kennen das: Da macht, nach Jahren des Darbens und
Herumkrebsens, nach gefühlten Aionen von Roten Zahlen der Tante-Emma-Laden im
Dorf oder Quartier dicht. Und auf einmal ist das Geschrei gross: Man habe stets
bei Emma eingekauft, man sei soooooo viel vorbeigekommen, man habe das Lädchen
sooooo unterstützt, und nun das. Zugegeben, man habe vor allem das dort geholt,
was man im ALDI, im DENNER, was man im EDEKA und im COOP vergessen habe, aber
etwas habe man dort immer gekauft. Dass Tante Emma von der im DENNER nicht
mitgenommenen Milch, von der Butter, an die man im COOP nicht gedacht hat, von
der Cola, auf die man spontan Lust bekommt und den Sonntagmorgenbrötchen nicht
leben kann, daran denkt niemand.
Auf den Punkt gebracht heisst das Tante-Emma-Syndrom: Wir
verkennen die Frequenz, mit der eine Sache genutzt wurde, in dem Moment, in dem
sie abgeschafft wird.
Wenn die Gemeinde Guggiswil ihr Museum für Ur- und
Frühgeschichte abschafft, besteht das ganze Dorf auf einmal nur noch aus
Hobbypaläontologen, die Zeter und Mordio schreien.
Wenn die Pfarrei St. Munizius in Herbstetten keinen Priester
mehr bekommt, besteht der ganze Ort auf einmal auf frömmsten Katholiken, die
praktisch ihr ganzen Leben zwischen Taufstein, Altar und Tabernakel verbracht
haben.
Wenn der Wanderclub Frohsinn Murgen e.V. sich auflöst, haben
auf einmal bei jeder Monatswanderung ca. 4800 Leute teilgenommen, komisch, das
das Apérogebäck immer gereicht hat…
Nein, die gute Dame muss das schlucken, was einfach Tatsache
ist: Basel verlor auf den 13.12.2015 zwei Verbindungen, und zwar NICHT, weil
man Basel immer mobbt, NICHT, weil andere Regionen immer bevorzugt werden,
NICHT, weil pure Willkür herrscht, sondern weil die Strecken schlicht und
einfach ZU WENIG GENUTZT WURDEN.
Aus dem umgekehrten Grund wird z.B. Solothurn-Burgdorf
intensiviert , eben weil viele Leute dort gefahren sind, und zwar den ganzen
Tag, nicht nur zu den Stosszeiten.
Also gehen Sie doch im neuen Jahr mal wieder wandern, gehen
Sie in die Kirche und kaufen Sie doch ihre GANZEN Festtagseinkäufe bei Tante
Emma.
Oder jammern Sie nicht, wenn es auf einmal keinen Laden,
keinen Priester und keinen Wanderclub mehr gibt.
Oder wenn Sie auf dem Weg an den Genfersee jetzt in Olten umsteigen müssen...
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