Freitag, 4. Juli 2014

Der versteckte Zwangswunsch



Dieses Jahr werde ich es in den  Grossen Ferien besser machen: Ich werde mich vom Erholungsstress fernhalten.
Sie wissen nicht, was Erholungsstress ist?
Ganz einfach: Der Stress, sich innerhalb ein paar Wochen wieder zu einem fitten, tauglichen, erholten, zu einem brauchbaren, kraftstrotzenden Menschen zu machen. Der Stress sich nach 35 Tagen so zu fühlen, als sei man durch einen Jungbrunnen geschwommen, rundumerneuert, generalrevidiert, braungebrannt.
Der Stress, die Zeit, die einem zu Verfügung steht, voll und ganz der Erholung zu widmen.
Sie denken doch nicht etwa, die Bemerkungen der Chefs und Kollegen, der Mit- und Umwelt zu Beginn des Sommers seien Wünsche, nein, es sind Befehle.
„Erhole dich gut!“ ist immer noch ein Imperativ und heisst: Komme bitte so wieder, wie wir dich ab August brauchen: Tauglich für 20-Stunden-Tage, ausgeglichen, belast- und einsetzbar.
Die Welt ist voll von solchen Befehlsformen, ich nenne sie den versteckten Zwangswunsch. (VZW) Wir setzen VZW ein, wenn wir uns nicht mit irgendwelchen Sorgen oder Nöten anderer belasten möchten. „Habe einen schönen Tag!“ heisst doch auch: „Hoffentlich hast du heute einigermassen brauchbare 24 Stunden, weil ich nämlich so gar keine Lust habe, morgen dein Genörgel anzuhören, also nimm den Tag, wie er kommt, er wird schon schön sein, und wenn nicht, dann schweige bitte darüber: Habe einen schönen Tag.“
VZW
„Have fun!“  schreien einem die Kalifornier ins Ohr und meinen damit: „Wir sind hier im Sonnenmekka der USA, nicht im Depri-New York, hier ist kein Platz für düstere Lyrik und Philosophie, hier das Fitnessstudio der Tempel und der Strand der Heilige Berg, hier trägt man sein Sixpack at the beach spazieren, spielt Volleyball und Frisbee, bis die Haut so bronzefarben ist, dass man sie abends in der Cocktailbar zeigen kann, also komme BITTE nicht auf die Idee hier irgendwie melancholisch zu sein, LÄCHELN, LÄCHELN, LÄCHELN, sonst können wir sehr unangenehm werden.“
VZW
„Enjoy your meal!“ heisst es dann abends im Restaurant, also: „Wir haben uns so viel Mühe gegeben, das Essen schmeckt dir, kapiert, wir wollen nichts anderes hören! Für Beschwerden haben wir keine Zeit, also MAGST du ab heute dein Essen ein bisschen schärfer, du MAGST ab heute Erdnüsse und du MAGST Ingwer, verstanden?“
VZW
Beim VZW geht es immer nur um die Bedürfnisse, um das Wohlergehen und Wohlsein des Sprechers. Weil ICH keine Lust habe, mich mit irgendwelchen Problemen zu belasten, soll es der Welt gut gehen, und weil Wünsche so schwach sind, befehle ich es.
Die VZWler (Versteckte Zwangswünscher) unserer Breiten haben „Erhole dich gut!“ in ein ganzes Arsenal von Teilbefehlen aufgesplittet, von denen jeder einzelne einen unter totalen und grausamen Erholungsstress setzt:
„Schlaf jetzt aus in den Ferien!“
Natürlich wache ich regelmässig in der arbeitsfreien Zeit um 4.00 auf, und statt mir einen Kaffee zu machen, mich auf den Balkon zu setzen und auf den Sonnenaufgang zu warten, im wohligen Wissen, nach dem Lunch einen dreistündigen  Mittagsschlaf machen zu dürfen, wälze ich mich bis 8.00 schlaflos im Bett und stehe wie gerädert auf – und habe ein schlechtes Gewissen, weil ich mich so ja viel weniger erhole.
„Mach mal ein paar Tage gar nichts.“
Natürlich verspüre ich nach ein paar Tagen die Lust, meine Notensammlung aufzuräumen, ganz nach dem Motto meiner Oma
Hast du zur Arbeit grade Mut
Geh frisch daran, dann wird sie gut
Aber statt die drei Stunden dranzusetzen, setze ich mich jetzt mit einem Kaffee auf den Balkon und warte auf den Sonnenuntergang und verbrauche meine ganze Energie damit, mich in meinem Liegestuhl zu halten. Nach drei Stunden stehe ich wie gerädert auf – und habe ein schlechtes Gewissen, weil ich mich so ja viel weniger erhole.
„Fahr mal weg!“ „Mach mal Tapetenwechsel!“
Was soll denn das nun? Ich wohne in weisser Raufaser, die es überall hat, die Gefahr, am Urlaubsort in ein Zimmer mit ebenfalls weisser Raufaser zu geraten und damit den Tapetenwechsel zum Flop zu machen, ist relativ gross. Ausserdem bin ich Pendler, ich fahre jeden Tag weg.
Nein.
Nein.
Nein.
Ich bin nicht mehr bereit mich den VZW zu beugen und werde jeden Erholungsstress vermeiden. Ich werde um 4.00 aufstehen und jeden Tag eine Kleinigkeit arbeiten, wenn ich Lust habe.
Und wenn ich keine Lust dazu habe, werde ich NICHT wegfahren, wozu habe ich denn eine schöne Wohnung, wenn ich sie nicht endlich mal geniessen kann?
Die Situation ist paradox: Wenn Sie sich darauf einstellen, dass ich im August müde und kaputt wieder erscheine, und Sie mir versprechen, damit umgehen zu können, es zu ertragen, dann wird das eben nicht passieren und ich werde rundumerneuert, generalrevidiert, kraftstrotzend, werde braungebrannt und gejungbrunnt  (oder heisst es junggebrunnt) antanzen.
Versprechen Sie es?

P.S. Ich habe Ihre Klagen übrigens auch satt, ich sollte die Glosse daher auch mit dem Satz
„Haben Sie viel Vergnügen!“ beginnen.
Kein Wunsch.
Ein Befehl.


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