Donnerstag, 24. Juli 2014

Bin ich unsichtbar?


Drei Packungen Tomaten. Drei Packungen Zuchetti. Zwei Salatgurken.

Ich stehe an der Theke des Zugbistros im ICE 77 nach Hamburg und warte. Warte auf einen Doppelespresso. Also eigentlich warte ich darauf, dass die beiden Damen, die mit dem Einräumen von Waren beschäftigt sind, mich wahrnehmen und meine Bestellung aufnehmen.

Zwei Tüten Gemischter Salat. Zwei Tüten Grüner Salat. Vier Tüten Radicchio.

Wir möchten Sie noch auf unseren Gastronomischen Service hinweisen: Es ist Kaffeezeit. Gönnen Sie sich einen frischgebrühten Kaffee oder Espresso und ein Süsses Teilchen nach Wahl im Restaurant und Bistro im Wagen 9.

Will ich ja! Will ich ja! Aber dafür müsste ja mal eine bemerken, dass ich dastehe.
Ein Kellner kommt herein und liefert dreckiges Geschirr ab, auch er sieht mich nicht. Inzwischen sind 10 Minuten vergangen.

Zwei Flaschen Italienische Salatsauce. Drei Flaschen Französische Salatsauce.

Vielleicht bin unsichtbar geworden, wie die Leute in manchen Geschichten und Sagen? Unsichtbar, sodass ich für alle Luft bin und sie durch mich hindurchsehen? Eventuell schauen die beiden Madamen durch mich auch durch wie durch Glas? Die Nymphe Echo wurde damit bestraft, dass sie nicht mehr zu sehen war und nur noch Sätze wiederholen konnte. Für was strafen mich die Götter?

Ein Blumenkohl. Ein Wirsing.

Wenn sich ein Arzt im Zug befindet, bitte in Wagen 3. Wir haben einen Notfall.
Das ist es: Ich bin gestorben! Mein Körper sitzt weiterhin an seinem Platz und der unsterbliche Rest steht hier. Deshalb sieht mich keiner. Aber hat man jemals gehört, dass bei Nahtoderfahrungen Kaffee getrunken wurde? Habe ich bei Kübler-Ross nie gelesen. Ausserdem sitze ich in Wagen 1.
Ich lebe also noch. Inzwischen sind 20 Minuten vergangen.

500g Camembert. 500g Salami. 500g Schinken.

Plötzlich wendet sich die Dame zu mir: „Hallo, wir mussten unbedingt die Ware einräumen, die wir in Frankfurt gekriegt haben, wird sonst schlecht. Was kann ich für Sie tun?“
Ich werfe in die Runde, dass ich seit einer Ewigkeit hier stehe und echt Angst hatte, unsichtbar oder tot zu sein.
„Ich habe Sie gesehen, ich habe Sie schon bemerkt.“
„Ja, aber…mal ein Lebenszeichen, so wie: Bin gleich bei Ihnen?“

Warum schaffen wir es nicht, einfach mal zu signalisieren, dass wir den anderen bemerkt haben? Kein Mensch muss eine Mail mit 30 Fragen innerhalb von vier Minuten beantworten. Aber wie wäre es mit dem Hinweis
Muss nachdenken. Melde mich übermorgen.
Niemand erwartet von einem Verkäufer im Sportshop, dass er drei andere Kunden stehen lässt und mit einer Flugrolle oder einem Salto über zwei Fussballtore und vier Zelte zu Ihnen hinfliegt. Aber wie wäre es mit einem Lächeln:
Habe Sie gesehen. Komme gleich.
Sonst bekommen nämlich Leute das Gefühl, wirklich unsichtbar zu sein. Oder tot.

Der Espresso, der doppelte, war übrigens wirklich gut.
Als ich ihn getrunken hatte, schlich ich mich davon.
„Hallo“, rief die Frau, „Zahlen noch.“
So wird man also gesehen.

 

 

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