Freitag, 6. Juni 2014

Wollen Sie wissen, wie ich gerade aussehe?

Ich schreibe diesen Post im Zug von Moutier nach Solothurn. Stehend, wie Sie sehen. Die dort eingesetzten Wagen der BLS haben nämlich keine guten Tische, aber so eine Ablage, die man als Stehpult benützen kann. Leider direkt vor der Zugtoilette, die Sie im Hintergrund erahnen. Kein schönes Motiv, aber ich drehe mich mal ein bisschen: Ah, die Hausberge von Crémines, wir sind also noch vor dem Weissensteintunnel. Ich sehe ein wenig müde aus, aber gut gelaunt. Meine Haare, die zu lang sind, ich müsste dringend mal wieder zum Friseur, habe ich so mit Gel ein bisschen aufgemotzt oder aufgebrezelt. Ich trage, passend zum Immernochaprilwetter, drei Schichten, die sie alle sehen können: Ein graues T-Shirt, ein blassrotes Knitterhemd und eine blaue Kapuzenjacke.

Sie finden das nicht spannend? Sie fragen, was das alles soll?
Leute, das ist ein Selfie.
Ein geschriebenes, literarisches, textuöses Selfie.

Und  natürlich völlig bescheuert. Es interessiert den Leser und die Leserin nicht, was der Schreiber gerade anhat.

Die Frage ist aber, warum das so viel vomhockerreissender ist, wenn  man permanent Fotos von sich macht und in aller Welt herum schickt. Denn wenn ich ein Selfie (also ein JPG-Selfie) von mir gepostet hätte, hätten das alle toll gefunden. Statistiken zufolge macht ein Jugendlicher pro Tag im Schnitt 76,94 Selfies, postet davon immerhin 23,7 und erhält 54,8. Die Gesamtmenge aller Selfies im Internet beläuft sich auf 4.562.457.000, also über 4,5 Milliarden. Um sie anzusehen bräuchte man mehrere Menschenleben.   

Jetzt kommen Sie mir bitte nicht mit Selbstportrait. Natürlich hat fast jeder Maler auch einmal sich selbst gemalt und auch Man Ray hat Aufnahmen mit Selbstauslöser gemacht. Aber das waren Künstler und die Produkte sind Einzelstücke. Stellen Sie sich vor, Rembrandt wäre so selfiesüchtig wie Leute heutzutage gewesen, es gäbe keine Nachtwache und keine Geburt Christi, es gäbe nur Bilder von ihm, dem hässlichen kleinen Zwerg mit Baskenmütze.

Gibt es für Sie auch so ganz wenig Fotos, auf denen Sie sich wirklich gefallen? Man findet immer irgendetwas nicht gut an sich, gell? Man sieht die kleinen Pölsterchen, man sieht den zurückgegangenen Haaransatz, man sieht Falten, die sonst nicht auffallen usw.

Das wird bei einem Selfie nicht besser und die Selfieschiesserei ist für einige Jugendliche schon zu einem richtigen Problem geworden. Da zückt man ständig sein Handy und knipst und guckt.
Und geht ein paar Schritte.
Und knipst und guckt.
Und steht vor einer Hauswand.
Und knipst und guckt.
Und kommt in die Sonne.
Und knipst und guckt. 
Und geht in die Badi.
Und knipst und guckt.
Und ist nie zufrieden.
Einige Leute müssen deshalb schon in Therapie. Weil sie an ihren Selfies verzweifeln, die nie so smart, hübsch, so wohlgebaut und durchtrainiert aussehen, wie sie gerne wollten. Und deshalb aus dem Knipsen und Gucken nicht herauskommen. 

Einen guten Trick hatte mein Kollege Hubert herausgefunden: Er liess seine Selfies von einem anderen machen. (Sind natürlich dann keine Selfies mehr, sondern Elsies, taken by somebody else.) So sah er immer jugendlich, frisch, smart und lecker aus. 

Oder Sie machen es wie ich: Sie schreiben textuöse Selfies, ich hätte ja genausogut schreiben können, ich sei schon nach dem Weissenstein, also in Oberdorf, ich sei frisch beim Coiffeur gewesen, ich trüge Armani, sei fit und braungebrannt und wer weiss was noch.

Vielleicht wird das doch das Selfie der Zukunft.

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