Montag, 9. Juni 2014

Ausnahmezustand WM

Im Juli vor vier Jahren bog in Hannover ein Autofahrer falsch ab. Er bog aber nicht etwa in eine Einbahnstrasse oder auf einen Strassenbahnplatz, er schrammte über den Bürgersteig direkt in eine Buchhandlung, er nahm die Wanderführer, Wörterbücher und Kochbücher vom Regal, wischte dann noch die Fachliteratur auf den Boden, bis ihn die Belletristik stoppte. Vor den Schranken des Gerichts gab er an, dass er ein WM-Spiel im Radio gehört und die Konzentration verloren habe. Er wurde freigesprochen und die Buchhändlerin musste den Schaden selber tragen.

Ausnahmezustand.

Im Juli vor vier Jahren packte eine Mailänderin beim zweiten Spiel der Italienischen Elf ihre Koffer und verschwand aus dem Leben ihres Mannes. Seine Anwälte rieten ihm dringendst davon ab, eine Scheidung mit "Böswilligem Verlassen" durchzuziehen, und sie rieten ihm auch, Wörter wie "Depression" und "Elementare Einsamkeit" nicht in den Mund zu nehmen, weil er das Verschwinden seiner Gattin erst nach dem Endspiel bemerkt hatte.

Ausnahmezustand.

Im Juli vor vier Jahren reichten in Zürich Eltern Rekurs gegen eine Note ein, weil der böse Lehrer einen Test am Tag nach einem Spiel der CH-Nationalmannschaft angesetzt hatte. Die Schulleitung und der Schulrat lehnten den Rekurs ab, aber vom Amt für Volksschulen bekamen die Väter und Mütter Recht: Ein Lehrer dürfe während einer Weltmeisterschaft keine wichtigen Prüfungen machen.

Ausnahmezustand.

Und jetzt ist es wieder so weit: In dieser Woche geht es in Brasilien los und die Welt steht Kopf. Firmen trauen sich nicht, etwas Wichtiges von ihren Mitarbeitern zu verlangen, alles ist entschuldigt, alles ist OK, in den Bordellen werden TV-Geräte aufgestellt, damit die Freier auch während des bezahlten Beischlafs kein Tor verpassen und man kann keinen Schritt nach draussen machen, ohne irgendwie auf ein Public-Viewing zu stossen. In jedem Laden gibt es WM-Tassen, WM-Unterhosen, WM-Mousepads, WM-Klobrillen, WM-Kochlöffel und WM-Kondome. 39 Milliarden Liter Bier wird die Welt in den nächsten Wochen konsumieren, zusammen mit 340 000 000 Tonnen Kartoffelchips.

Ausnahmezustand.

Ich habe nichts gegen die WM, ich möchte nur, dass Menschen verstehen, dass ich den Ausnahmezustand nicht mitmache, oder dass für mich andere Ausnahmezustände gelten. Ich verstehe, dass Leute mich für verrückt halten, wenn ich am Tag des Endspieles eine Telefonkonferenz ansetze, aber ich möchte genauso, dass diese Leute mich nicht für verrückt halten, wenn ich am Tag der Eröffnung des Grünen Hügels an keiner Telefonkonferenz teilnehme. Umberto Eco hat dieses Ungleichgewicht in einem unglaublich schönen Streichholzbriefchen festgehalten. Er verwickelt dort einen Mitreisenden in eine Diskussion über CD-Einspielungen von Blockflötenkompositionen, der natürlich völlig konsterniert ist, und vergleicht dieses "Hä - was meinen Sie?" mit dem "Hä - wie bitte - was?", das man sagen muss, wenn einen der Taxifahrer in einen Dialog über ein Fussballspiel verwickelt.

Seien Sie also ruhig im Ausnahmezustand, trinken Sie Hektoliter Bier und essen Sie Tonnen von Chips, fahren Sie in Buchhandlungen, lassen Sie ihre Frauen ziehen und rekursieren Sie gegen Schulnoten, aber verstehen Sie bitte auch, dass ich den Ausnahmezustand nicht mitmachen werde.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen