Mischa sitzt mit seinem Tablet im Klassenzimmer und schiebt
wie wild Karten auf seinem Bildschirm hin und her. „Kennen Sie das?“, fragt er,
als er sieht, dass ich ihm von hinten über die Schulter schaue. „8x8“, entgegne
ich, „man muss die Asse freispielen und dann darauf aufbauen, darf aber nur
Karten umlegen, die unten an die Kolonnen passen. Zweimal darf der Stapel
durchforstet werden.“ „Ich denke, Sie machen keine Computerspiele?“ „Junger
Mann“, grinse ich, „ich habe dieses Ding schon gelegt, da warst du noch nicht
einmal in Planung. Unter anderem entsinne ich mich, dass ich 8x8 mal einen Tag
lang am Strand von Cannes gespielt habe, am Tramperstrand wohlgemerkt, auf
einem Badetuch, das war 1982.“ „Und wie?“ „Mit Karten, mein Sohn, mit Karten,
ich hatte ein Mini-Canasta-Blatt immer im Rucksack.“ Als Mischa mich ungläubig
anglotzt, lege ich noch einen drauf: „Meinst du, ihr Digital Natives habt
irgendwas Neues entwickelt? Ihr bildet die Welt ab, die es gab, nur
geschickter, schneller und besser.“
Mischa speichert und schliesst 8x8, dann schiesst er kurz
ein Foto von mir. „Jetzt gucken Sie mal her!“ Er nimmt das Bild und fängt an
mein Konterfei zu verzerren. Meine Nase wandert unters Kinn, mein Mund zieht
sich zu den Ohren und meine Augen erscheinen eines frontal und eines seitlich.
„Na?“ Mischa hält mir mein Porträt vors Gesicht. „Kubismus“, konstatiere ich,
„Kunstrichtung der 20er Jahre, Picasso, Braque, solltest du in Kunstgeschichte
eigentlich schon gelernt haben. Die haben genauso Bilder gemacht, daher kommt
die Idee. Und komm mir jetzt bitte, bitte nicht mit einem Selfie. Das
Selbstporträt ist so alt wie die Malerei, nein, falsch, seit es Spiegel gibt.“
Mischa schliesst sein Verzerrungsprogramm und geht zu
WIKIPEDIA. Als er mit seinem Pfeil auf das Zufallsprogramm fahren will, fange
ich an zu lachen: „Aber das blöde Zufallsteil ist doch gerade deshalb dabei,
weil die Leute es vermisst haben, dass sie das Lexikon drei Seiten zu weit
vorne aufschlugen und sich beim Weiterblättern irgendwo festlasen. Wenn sie nach
zwei Stunden den Brockhaus zumachten, hatten sie vergessen, was sie eigentlich
wollten, aber eine Menge gelernt.“
„Gibt es gar nichts Neues?“, seufzt Mischa resigniert.
Ich glaube nicht. Man hat ja auch ganz bewusst die
Bezeichnungen der alten Sachen übernommen, Schreibtisch, Ordner, usw., damit
die Leute sich gleich wohlfühlen. Irgendwann werden die Ursprungsdinge
verschwunden sein, und man wird gar nicht mehr wissen, warum eine Sache auf dem
Computer so und so heisst. Werden die Kids in dreissig Jahren noch wissen,
warum es „Diaschau“ heisst? Werden sie denken, das heisst „die A-Schau“ oder es
von „sieh an“ ableiten, wenn es gar keine Dias mehr gibt? Werden sie noch
wissen, warum bei Powerpoint „Folien“ gemacht werden, wenn die
Hellraumprojektoren ausgestorben sein werden?
Manchmal weiss ich ja schon selbst nicht mehr, wie etwas
früher hiess oder funktionierte. Wie hat man eigentlich früher Kaffee gemacht?
Wie hat man kommuniziert ohne E-Mail? Wie hat man Musik gehört? Wie kam man an
Reiseinformationen?
Fakt ist, dass es Kaffee, Kommunikation, Tonträger und im Voraus
gebuchte Reisen schon gab. Das hat das 21. Jahrhundert nicht erfunden.
Das müssen sich die Youngsters gar nicht einbilden.
Mischa also…
Ach so, hier noch die Auflösung für unsere ganz jungen Leser:
Kaffee hat man mit Kaffeefilter, Filterpapier und Pulver gemacht. War klasse, wenn man dagegen stiess, in Hall haben wir mal eine Stunde die Küche geputzt.
Briefe durften damals noch von Privatpersonen und nicht nur von Spendenbettlern und Werbern verschickt werden.
Musik kam von Kassetten, und trotz der ca. 100 Stunden meines Lebens, die ich mit Wiederaufwickeln verbracht habe: Wer von den Kiddies wird sich noch erinnern, wer ihm welches mp3 geschickt hat? Ich kann mich noch an Kassetten erinnern und wer sie mir aufgenommen hat, z.B. an einen Mix, der genial geschnitten war, da kamen, als Ellas „Where is the man for me…? verklungen war, direkt die Herren in der Badewanne. (Gruss nach Augsburg)
Reiseprospekte bestellte man der Tourist-Information. (Adresse war im Reiseführer.)
Mischa also schaut mich traurig an: „Nichts Neues?“ „Nichts Neues unter der Sonne“, antworte ich, „sagt schon der Kohelet. Nicht mal das Mobbing habt ihr erfunden, das habt ihr mit Cybermobbing auch nur verfeinert.“ „Nichts Neues“, seufzt der junge Mann und schliesst sein Tablet.
Aber ich weiss, was ich heute Abend machen werde: 8x8 legen an meinem neuen Esstisch. Mit echten Karten, die man anfassen kann. Ich glaube, ich habe sogar noch das alte, fettige, speckige Spiel, das schon mit bei InterRail war.
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