Dienstag, 13. Mai 2014

Die Lese-App



Original, fahr hin deiner Pracht!
Wer kann was Kluges, wer was Dummes denken,
Das nicht die Vorwelt schon gedacht.

Nein, Mephi, das ist nicht ganz richtig so.
Es müsste heissen:

Glosse, fahr hin in deiner Pracht!
Man kann noch was Blödes schreiben,
Die Umwelt hat es schon gemacht.

Die Lese-App!
Die Lese-App!
Das sollte doch ein dummer Scherz sein. Jetzt habe ich aber am Samstag in SWR2/Wissen einen Beitrag über QS (Quantified Self) gehört, in dem eine junge Engländerin über ihre Lese-App berichtete. Sie trägt alle gelesenen Bücher ein und die App überprüft, wertet aus, macht Internetrecherche,  gibt weitere Lesetipps usw. Sie sei, so sagte die Lady, immer der Meinung gewesen, sie lese Bücher von sowohl männlichen als auch weiblichen Autoren/Autorinnen und auch die Helden der Bücher seien zur Hälfte auch HeldINNEN. Jetzt habe aber die App ihr gezeigt, dass sie vor allem Bücher von „male authors with male heroes“ konsumiere.

Meine Güte. Ehrlich gesagt, ich hätte das auch ohne App rausgekriegt. Normalerweise gibt es eine Klappe, auf der der Autor/die Autorin kurz vorgestellt wird. Da finde ich die folgenden Informationen:

1 Vorname
2   Bild (nicht immer)
3   Personalpronomen im Text

Das reicht meistens schon. Gut, nehmen wir an, die Person, die das Buch verfasst hat, hat so einen blöden Vornamen wie Roxer. Oder Bilbi. Oder Tzshfru. Oder Andrea, das ist nämlich im Italienischen ein Männername, das wird übrigens ganz witzig, wenn eine Andrea einen Italiener heiratet, der dann seiner Verwandtschaft tausendmal erklären muss, dass er NICHT das Ufer gewechselt hat.
Wenn also der Name nicht identifizierbar ist, dann haben wir vielleicht ein Foto. Da kann man ja auch gelegentlich sehen, ob Männlein oder Weiblein. Es sei denn, wir sehen eine Frau mit Bart im langen Abendkleid.
(Kleiner Exkurs: Ich habe mich schlappgelacht, dass ein PR-Profi geäussert hat, die Conchita Wurst sei „erfrischend authentisch“, ein ganz neuer Begriff von Echtheit. Oder sind inzwischen nur noch die Kunstfiguren echt?)
Gut, wenn also Roxer Bart und Wimperntusche hat, wenn Bilbi Schnauz und Bluse aufweist, wenn Tzhfru eine behaarte Männerbrust durchscheinen lässt, aber Lippenstift aufgemalt hat, dann hilft uns eventuell das Personalpronomen.
(Für meine Leser, die sich mit Deutsch nicht so gut auskennen: ich/du/er/sie/es/wir/ihr/sie)
Wenn dann da also steht:
Seit 2004 lebt sie mit einer Katze und zwei Hunden auf einem Bauernhof bei Bremen.
Dann ist das eine Frau, klar?

Ein ganz kurzer Text, ein sogenannter Kurzklappentext, könnte jetzt wirklich kein solches Pronomen aufweisen, aber wie steht es mit dem ganzen Buch? Kann man ein Buch durchlesen ohne zu merken, ob es eine Heldin oder ein Held ist? Selbst wenn es ein Ich-Erzähler ist, wird der nicht irgendwann angesprochen? Kommt man auf 350 Seiten ohne Namen aus?
Und wenn die redende Person auf 350 Seiten nur durch den Dschungel robbt und die einzigen anderen Figuren Schlangen, Affen und Kolibris sind (ein sauspannendes Buch wäre das), wie findet dann meine App das raus? Fragt sie den Autor/die Autorin über Facebook an, was man sich bei der Titelfigur gedacht hat?

Nein, gute Frau, es würde genügen, die Bücher in ein kleines Büchlein, ein sogenanntes Bücher-Büchlein zu notieren. Wenn du ganz chic sein willst, kannst du dir so ein Schon-Hemmingway-Hat-So-Ein-Ding-Benutzt-Notizbuch für ca. 50 Franken kaufen, aber es geht auch mit einem von ALDI.
Denn Vorsicht!
Deine Lesegewohnheiten sind auch ein Datenpaket und du musst dich nicht wundern, wenn dauernd Werbung für Romane VON Frauen ÜBER Frauen dir ins Haus flattern.

Ich aber gehe beschwingt in den Tag, mit dem guten Gefühl, dass, egal was ich mir auch noch so Schwachsinniges ausdenke, es garantiert schon irgendwo gemacht wird.

P.S. Bitte lesen Sie auch unbedingt den reizenden Kommentar von Josi!

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