„Schauen Sie mal! So eine Schweinerei! Das waren bestimmt
Jugendliche! Die sollte man alle einsperren!“ Die ältere Dame im
Peek&Cloppenburg-Mantel und mit roten, hochtoupierten Haaren ist sichtlich
verärgert. Wir sitzen im Bus der Linie A von Wismar Markt nach Ostseebad
Wendorf, und an der Haltestelle Friedensplatz bietet sich wirklich ein
interessantes Bild: Im Wartehäuschen mit drei grünen Metallsitzen ist hinten an
die Glaswand eine grosse Alufolie geklatscht, darum gruppieren sich angeklebte
Pappteller, der Boden ist mit Schokoriegelpapierchen übersät. Ich starre
gebannt auf das Arrangement und sage dann zu der Dame: „Quatsch, das ist
Kunst!“ Der Blick der Frau, den sie mir nun schenkt, besagt in Worte übersetzt:
Bekloppter, Männchen holen, Zwangsjacke, Valium. Ich setze aber noch einen
drauf: „Besoffene Jugendliche schmeissen ihr Zeug einfach in die Lande, aber
das ist doch arrangiert, gewollt, da ist doch eine Komposition dabei.“ Ich habe
Glück, dass die Dame kein Handy hat, vielleicht würde ich die nächsten Tage in
der Mecklenburgischen Psychiatrischen Landesklinik verbringen.
Zur Erklärung muss ich sagen, dass meine Reise, deren
vorletzter Punkt Wismar ist, mich vorher durch Weimar, Kassel, Bad Hersfeld und
Erfurt geführt hat, und während die beiden letztgenannten herrliche Freilichtaufführungen
boten, lockte Kassel mit der dOKUMENTA
13(Ist wirklich das Logo, ich musste es viermal schreiben, bis ich
kapiert habe, dass ich nicht die Leertaste drücken darf). Und wenn man durch
die Stadt, vor allem durch die Karlsaue schlendert, stellt sich einem immer die
gleiche Frage: Ist das da drüben Kunst? Sind die Blumentöpfe von einem
Landschaftsgärtner oder von einer Künstlerin so aufgestellt worden? Ist das
SANATORIUM hinter den Bäumen eine
Erste-Hilfe-Station oder gehört es zur dOKUMENTA ? Die Blumen sind von einer Künstlerin gestellt, und
das Haus mit dem Roten Kreuz entpuppt sich als
Offenes-Spass-Performance-Therapie-Projekt. Hilfe geben hier nur die gelben
Nummernschilder: Was so ein Schildchen hat, ist Kunst und gehört zur
Ausstellung. Und das ist auch richtig so, denn Kunst ist immer Kunst, wenn ich
sie zur Kunst erkläre. Das war übrigens schon immer so. Der Hase von Dürer ist
Kunst, während tausende von biologischen Darstellungen nicht unter diese
Kategorie fallen. Die Trompetenfanfare einer römischen Kaserne wird auf einmal
Kunst, wenn Tschaikowski ein Orchesterstück damit beginnen lässt. Nach der dOKUMENTA (nur einmal geschrieben, auch oben schon, ich bin doch nicht doof, ich lerne dazu) dienen die Schilder übrigens dazu, dass die Arbeiter nicht das Falsche wegwerfen, daher rührt der wunderbare Satz: IST DAS KUNST ODER KANN DAS WEG?
Die Macher der Installation in Wismar haben also nur einen Fehler gemacht, es waren wahrscheinlich doch besoffene Jugendliche, denen man aber ein gestalterisches Feeling nicht ganz absprechen darf, sie haben kein Schild gemacht. Ein Schild, auf dem das Folgende stünde:
LATE SATURDAY NIGHT
Künstlerkollektiv Wendorf 2012
Metall, Glas, Alu, Pappe, Papier
Auftragswerk der Hansestadt Wismar
Dann würden sich zwar rottoupierte Damen auch aufregen, aber nicht mehr über die Jugend, sondern über die Herren im Rathaus.
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