Dienstag, 3. Juli 2012

Denken in Biel


Ich verweilte wieder einmal in Biel. Und wie ich so kurz nach meiner Ankunft auf der Terrasse sass, einen Espresso trank und eine Zigarette rauchte, blickte ich über den See, über die Wellen und hinüber zur Petersinsel und dachte „Rousseau“.
 Quatsch, dachte ich natürlich nicht, ich dachte: „Nachher gehe ich schwimmen, hoffentlich ist das Wasser schön kalt und vielleicht kommt dann sogar die Sonne heraus und ich kann noch ein bisschen bräunen.“ Selbstverständlich habe ich meinen Rousseau gelesen, muss man ja als Germanist, der ist ja für den Briefroman wichtig und für Hölderlin, aber im Moment dachte ich einfach nur ans Baden.
Am Abend  regnete es heftig. Ich schaute aus dem Fenster auf die herunterprasselnden Wasserfluten und dachte: „Schweisswetter. Zum Glück muss ich nicht mehr hinaus.“ Was hatten Sie denn gedacht? Dass ich „Klopstock“ gedacht habe? Wer denkt denn „Klopstock“, wenn es regnet?  Gut, Werther und Lotte, aber das ist auch die bescheuertste Stelle, wo sie „Klopstock“ sagt.
Wer denkt bei fallenden Blättern an himmlische Gärten, die welken und nicht an die Arbeit, das Laub vom Trottoir zu klauben?
Wer denkt bei Schnee an die Winterreise und nicht an Rutschgefahr?
Der Mensch ist kein hochgeistiges und philosophisches Wesen, der Mensch – auch ich und auch Sie – ist die meiste Zeit banal. Von unserer Denkzeit – wir schlafen ja auch – gehen 2/3 für Gedanken an Sex drauf, die restliche denken wir an Einkauf, ÖV, To-do-Listen, Termine, Computerpannen, Essen, Trinken usw.  Vielleicht einmal am Tag haben wir eine sensationelle, einmalige Idee. Und diese Idee entpuppt sich ein paar Minuten später als doch nicht so genial, nicht so sensationell, als etwas, das die Vorwelt schon gedacht hat.
Warum das so ist? Weil man schlicht und einfach vor die Hunde ginge, wenn man seine gesamte Zeit mit Philosophie und Hochgeistigkeit verbrächte. Wir würden uns völlig auspowern, wenn wir nicht auch einmal etwas Banales denken würden.
Gut, es gab Leute, die wirklich nur im Genialen und Geistigen lebten. Aber die haben auch ihren Preis bezahlt: Hölderlin verbrachte die Hälfte des Lebens im geistigen Höhenflug und die Hälfte des Lebens in geistiger Umnachtung. Vielleicht hätte er auch einmal an die grosse Wäsche denken sollen. Und Rousseau? Er war auf der Petersinsel vor seinen Feinden sicher, Feinden, die zum grossen Teil eingebildet waren, der gute Zurück-zur-Natur-boy hatte eine waschechte Paranoia.
Jetzt sitze ich wieder auf der Terrasse und trinke einen wunderbaren Merlot, und ich denke an keines der vielen Dichterworte zum Thema Wein, ich denke nur: „Alkohol“.

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