Freitag, 30. März 2012

Pathologische Musikalie

Hurra! Es gab nun doch eine positive Reaktion auf meinen Lyrikpost.  Dr. Leo Vidass,  Musikwissenschaftler und  Germanist aus Hamburg, fand mein Gedicht toll und wird es vertonen.  Allerdings – und das trübt die Freude ein wenig – habe ich auf Umwegen erfahren, dass Vidass alles, aber auch wirklich alles vertont, jedes Gedicht, jede Prosa, jeden Satz, der ihm unter die Finger gerät. Er leidet unter Pathologischer Musikalie, kurz PM, einer Krankheit, die erst in den letzten Jahren ins Blickfeld der Psychiatrie gerückt ist.
Ich habe mich im Internet schlau gemacht: Menschen, die unter PM leiden, werden beim Anblick eines geschriebenen Textes vom Zwang überwältigt, das Gelesene sofort in Musik umzusetzen, in ihrem Kopf beginnt es zu singen und zu dröhnen, sie fangen an zu summen und binnen 5 Minuten sitzen sie da und schreiben Noten, wenn kein Notenpapier zur Hand ist, auf Fahrkarten, Servietten oder Belegen. Wahrscheinlich litten viele der grossen Komponisten unter dieser Krankheit, das würde z.B.  erklären, warum Schubert und Brahms so wenig wählerisch bei der Auswahl ihrer Liedtexte waren. Und es erklärt, weshalb die Libretti der Neuen Musik oft eine wirre Collage von Stücken aus dem Koran, der Bibel, der Edda, den Veden, Rudolf Steiner und Karl Marx sind.
PM kann im Extremfall zur völligen Lebensuntauglichkeit führen. PMler können ja kaum einen Text zu Ende lesen, weil sie schon nach dem ersten Drittel zu vertonen beginnen.  Klaus P., Student aus Trier hauste drei Jahre in einer mit IKEATeilen  vollgemüllten Wohnung, weil sich die Aufbauanleitungen in Chorkantaten, aber die Holzteile nicht in Möbel verwandelten. Maria Z., Rentnerin aus Köln, vereinsamt: Sie hat das gesamte Kölner Telefonbuch in einen Liederzyklus übertragen, aber seit Jahren niemand angerufen. Hans U., Gärtner aus Stuttgart, leidet unter einseitiger Ernährung, denn er kann weder eine Speisekarte noch ein Kochrezept durchlesen. Viele Patienten sind vollständig pleite, weil sie keinen Vertrag, keine Vereinbarung wirklich studieren.  Im schlimmsten Fall führt PM zum Tode: Beipackzettel!
Die Behandlungsmöglichkeiten für PM sind sehr eingeschränkt. Medikamente sind noch nicht auf dem Markt, es gibt nur wenige Selbsthilfegruppen und wenig Therapeuten bieten vernünftige Sitzungen an. Der Umgang mit erkannter PM ist hingegen leicht: GEBEN SIE EINEM PM-PATIENTEN NIE ETWAS GESCHRIEBENES IN DIE HAND! Insofern bin ich als Blogger natürlich Gift für jeden dieser armen Menschen, auch für Vidass, bei dem ich mich für diesen Text entschuldige. (Er wird das allerdings nicht lesen, er schreibt schon an einer Tripelfuge in His-Moll über den ersten Satz.)  

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