Freitag, 15. September 2023

Es gilt die Unschuldsvermutung

Eine meiner Lieblingsstellen bei Böll geht so:

Würde der nette Anwalt jetzt wirklich sagen, was er sagen musste? Das einzige, was er sagen konnte? Er sagte es: «Nehmen Sie`s nicht so schwer.» Sagte es, obwohl er wusste, dass sie`s gar nicht so schwer nahm, doch er musste es sagen, sagte es nett, und es war nett, dass er es nett sagte.

Zur Erklärung: Es geht hier um eine Scheidung, bei der sie schuldig geschieden wurde. («Bis dass der Tod euch scheidet» Erzählung aus dem Jahr 1976.) 

Wenn man so die Radio- und Fernsehprogramme, wenn man die Werbung und anderen Unsinn hört, dann fallen einem immer wieder Stellen auf, bei denen man das Böllzitat so umformulieren könnte:

Würde der unnette Sprecher jetzt wirklich sagen, was er sagen musste? Das einzige, was er sagen konnte? Er sagte es: «……………………………» Sagte es, obwohl er wusste, dass…, doch er musste es sagen, sagte es unnett, und es war unnett, dass er es unnett sagte.

Verstehen Sie? Ist Ihnen klar, was in die Stelle «……………………» gehören könnte?
Alle diese Dinge, bei denen man die Pistole im Rücken hört, bei denen klargemacht wird, wir müssen das sagen, wir sind verpflichtet, aber eigentlich finden wir es (sit venia verbo) Scheisse.

Da wird zum Beispiel Werbung für ein Medikament gemacht, das frei verkäuflich ist, für das man kein Rezept braucht. Und dann kommt der unsägliche Satz: «Zu Risiken und Nebenwirkungen lesen Sie die Packungsbeilage und fragen Sie Ihren Arzt oder Apotheker.» Und der wird so schnell gequatscht, wird so heruntergeleiert, wird so langweilig gesagt, dass jeder sich die Ohren zuhebt.

«Das Interview haben wir vor einer Stunde aufgezeichnet.» Auch so ein Satz. Als ob man das nicht am Schnitt merken würde. Und immer mit so einer Stimme vorgetragen, die ganz klar ausdrückt: Ich hasse diesen Satz, ich finde ihn blöd, ich muss ihn sagen, ich sage es unnett, und es ist unnett, dass ich es unnett sage.

Der schlimmste aller dieser Pistole-im-Rücken-Sätze ist aber zurzeit:

«Es gilt die Unschuldsvermutung.»

Das ist nun wirklich furchtbar, denn hier geht es ja um Ruf und Rufmord, oder um wirkliche Schuld und Strafe, es geht um sehr, sehr, sehr, sehr viel, und immer wenn dieser Satz gesagt wird, hört man mit: «Wir müssen das jetzt sagen, aber natürlich glauben wir dem XY kein Wort, der lügt natürlich, aber wir sind zunächst gezwungen, von seiner Unschuld zu reden, aber bald wird der hoffentlich hinter Gittern sitzen.»

«Es gilt die Unschuldsvermutung.»

Vorgetragen mit einer zynischen, hämischen, ironischen und bösartigen Stimme, einer Stimme, von der man gar nicht wusste, dass die Sprecherin oder der Sprecher eine solche hat.
Ich stelle mir die Frage, warum man heute erst die Medien und dann die Polizei informiert. Auch für die Beamten ist das ja eine blöde Situation, wenn ständig vorverurteilt wird.

Dazu kommt, dass es so verdammt schwierig ist, zu beweisen, etwas NICHT getan zu haben.
Nehmen wir an, Sie behaupten, ich sei gestern in Zürich gewesen. Wie kann ich schlüssig widerlegen, dass dem nicht so war? Wenn ich Termine in Basel hatte – und das war zum Glück der Fall – dann widerlegt das einen Aufenthalt an der Limmat. Aber wie, wenn ich den ganzen Tag zuhause war? Wie beweist man einen negativen Sachverhalt? Ein Fahrschein nach Zürich beweist eine Fahrt – aber beweist, dass ich kein Ticket habe, dass ich nicht dort war? Etwas, das ich in Zürich gekauft hätte, würde einen Aufenthalt belegen, aber ich habe nichts, beweist es, dass ich nicht dort war?
Ich habe noch nie etwas in einem Supermarkt geklaut. Aber wie kann ich das belegen? Gut, es gab nie eine Anzeige wegen Diebstahl, aber hier könnten meine Gegner behaupten, ich sei einfach nie erwischt worden. Es gibt auch kein Video, das mich beim Klauen zeigt, aber auch das belegt nichts.

Wenn nun die Polizei eine Anzeige wegen Mangel an Beweisen nicht weiterverfolgt, dann verschwindet die Sache im Dunkel der Zeit und alles ist wieder gut, wenn man, bevor man zur Polizei gegangen ist, sämtliche Medien informiert hat, dann wird es schwieriger.
Und das, obwohl stets gesagt wird:

«Es gilt die Unschuldsvermutung.»

Aber dieser Satz wird eben erzwungen herausgepresst, erzwungen gestammelt und gehustet. Eben so:
Würde der unnette Sprecher jetzt wirklich sagen, was er sagen musste? Das einzige, was er sagen konnte? Er sagte es: «Es gilt die Unschuldsvermutung», obwohl er dachte, dass man schuldig sei, doch er musste es sagen, sagte es unnett, und es war unnett, dass er es unnett sagte.



 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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