Dienstag, 19. September 2023

Das Gespräch haben wir vor der Sendung aufgezeichnet

Wie ich letzte Woche erwähnte, gehört folgender Hinweis zu den Sätzen, die man gequält hervorbringt, weil man sie sagen muss:

«Das Gespräch haben wir vor der Sendung aufgezeichnet.»

Nun fragt sich der Zuschauer natürlich stets, warum man ein Gespräch nicht live zeigen kann und kommt meistens darauf, dass der Interviewte keine Zeit hat. Das ist vor allem bei 3sat Kulturzeit klar, denn Schauspieler, Musikerinnen und Sängerinnen haben Auftritte, Dramaturgen und Regisseurinnen haben Proben und Dichterinnen und Maler, die ja erst um 16.00 aufstehen, sind dann am Arbeiten. Nun staunt der geneigte Zuseher aber, dass der Satz auch noch in einer anderen Form gesagt wird:

«Das Gespräch haben wir aus Termingründen vor der Sendung aufgezeichnet.»

Wenn das so gesagt wird, muss es ja, wenn die Termingründe nicht genannt werden, andere Gründe haben. Jetzt fragt man sich natürlich, was das für Gründe sind. Es sei hier erwähnt, dass bei Politikern stets von Termingründen die Rede ist, und das kann man sich ja auch irgendwie vorstellen, es sind mehr die anderen Leute, um die es hier geht.
Wir haben uns kundig gemacht und stellen hier ein paar Typen vor:

Das Interview mit dem Vorstadt-Lyriker

Der Vorstadt-Lyriker braucht eine Menge Inspiration. Und diese Inspiration holt er sich von den Substanzen, die seit Beginn der Lyrik die Poetinnen und Poeten beflügelten. Auf Deutsch gesagt, er ist eigentlich den ganzen Tag entweder betrunken oder bekifft. Nun wäre ein Live-Interview für die Moderatorin der glatte Selbstmord, man weiss einfach nicht, warum und wann er wie reagiert. Es kann zum Beispiel sein, dass es ihn statt in die Arme Apollons in die Arme Morpheus` treibt und er sanft entschläft, dann weckt man ihn und schneidet eine Stelle heraus. Es kann auch sein, dass er umfällt, auch hier wird er wieder aufgerichtet und die entsprechenden Passagen herausgefiltert. Ebenso fehlen im endgültigen Interview:
Die Passage, in der ihm schlecht wird.
Die Passage, in der er die Moderatorin beleidigt.
Die Passage, in denen er auf dem Tisch tanzt.

Das Interview mit der Philosophin

Die Philosophin hat Kant, Hegel, Nietzsche und Schopenhauer gelesen und stellt gegenwärtige Fragen im Licht und im Geiste von Kant, Hegel, Nietzsche und Schopenhauer dar. Leider ist es so, dass Kant, Hegel, Nietzsche und Schopenhauer auch stets alle in ihren Ausführungen vorkommen müssen. Bei einem live gemachten Interview müsste der Moderator also ständig dazwischenbrüllen. Weil er das nicht will, wird aufgezeichnet und das Interview von einer Länge von 2 Stunden auf 10 Minuten heruntergedampft. Es ist dann so, dass die Philosophin Kant ODER Hegel ODER Nietzsche ODER Schopenhauer zitiert, oder von Kant, Hegel, Nietzsche und Schopenhauer nur ein kleines Sätzlein. Das gesamte Interview kann allerdings – im Gegensatz zu dem mit dem Poeten! – auf YouTube gestellt werden, es gibt ja so Nerds, die sich auf YouTube stundenlang Philosophie angucken.

Das Interview mit der Influencerin

Die Influencerin würde sich natürlich nie, nie, nie, nie, nie auf ein Interview in Echtzeit einlassen. Es könnte ja sein, dass durch einen ungünstigen Lichtreflex ihr Lippenstift ungünstig aussähe; es könnte sein, dass ein Windstoss das Haar durcheinanderbringt. Es könnte sein, dass die Farben ihrer Bluse nicht richtig wirken und es könnte sein, dass ihre Brosche runterfällt. Und dann würde irgendjemand das auf YouTube stellen!
Eine Katastrophe!
Auf einen Schlag 1000 Follower weniger und die Werbeeinnahmen brechen weg.
Ausserdem wäre es ja auch noch denkbar, dass die Schnepfe von der «Kulturzeit», die ihr ja eh suspekt vorkam, die falschen Fragen stellt…

Das Interview mit dem prominenten Hobby-Maler

Das könnte man auch live im Studio machen, aber – und das darf der malende Schauspieler, malende Musiker, malende Lyriker nie erfahren – es wird ein Reserve-Interview. Die Bilder sind so belanglos und so schlecht, dass man das Interview nur sendet, wenn die Premiere von «Carmen» wegen Krankheit ausfällt UND die Standleitung zur Verleihung des Huchel-Preises nicht klappt UND die Vernissage von Richter verschoben wird. Also ein totales Notlösungs-Ding, das man aber zum Glück schon im Kasten hat.

Verstehen Sie nun, dass man die Gründe, die keine Termingründe sind, nicht sagen kann. Oder könnte man sagen:
«Das Gespräch haben wir vor der Sendung aufgezeichnet, weil der Lyriker immer bekifft ist.»
«Das Gespräch haben wir vor der Sendung aufgezeichnet, damit wir 80% des Geschwafels von Frau X rausschneiden können.»
«Das Gespräch haben wir vor der Sendung aufgezeichnet, weil eine Influencerin aus Sorge um ihr Geld nie etwas live macht.»
«Das Gespräch haben wir vor der Sendung aufgezeichnet, weil wir nicht damit rechneten, es zu brauchen.»
?
Sicher nicht.

So viel für heute. Ich muss ins Studio, die Glosse vorstellen.
Nein. Live!
Aber Radio Büdenhausen.



 

    

 

 

 

 

 

 

     

 

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