Freitag, 8. September 2023

Aiwanger kann sich nicht erinnern

Also, um das mal klar zu sagen: Wir hatten alle miteinander Flugblätter im Schulranzen, die 80er waren einfach das Jahrzehnt der Flugblätter und ständig sprang einer auf einen zu und drückte einem einen solchen Zettel in die Hand; damals meist noch schlecht auf einer Maschine getippt und mit schlecht kopierten Bildchen schlecht gelayoutet und dann das Ganze noch einmal schlecht vervielfältigt.
Aber wir waren da nicht wählerisch, wir nahmen alles, ob von rechts oder links oder von wem auch immer, entweder kam das Flugblatt aus unserer Ecke (also links) oder aus der anderen (also rechts), beim einen Male nahm man es aus Solidarität, beim anderen als Konkurrenzbeobachtung.
So konnte es sein, dass man folgende Schriftlichkeiten in einer Schultasche fand:

«Pershing weg!!!!!!!!!!!!!!! – Auf zur Demo am 4.5.!!!!!!!!!!»
«Freiheit für die Bisamratten!»
«Weg mit dem § 478!»
«Der wahre Weg zum Glück mit dem malaysischen Horoskop»
«Jesus liebt dich»
«Kein Tempolimit auf deutschen Strassen»
«Lasst Hess frei»
«Der erzwungene Krieg – die Wahrheit über 1939-1945»

Eine Schulleitung, der man eine solche Schultasche vorgelegt hätte, hätte nicht sagen können, ob der Inhaber oder die Inhaberin evangelikal, esoterisch, rechts oder links ist.

Aber:
Und dieses grosse Aber muss man jetzt vor die unsägliche Bayerngate-Story setzen!
Aber:
Die Rektorinnen und Rektoren, die Direktorinnen und Direktoren, die Schulleitungen interessierten sich nicht für die Inhalte von Schultaschen. Man hätte ja immer etwas Verdächtiges gefunden, und was macht man dann? Die Eltern informieren? Die Polizei? Gleich einen Schulverweis? Besser man guckte nicht in die Taschen und Ranzen.
Niemals wurde irgendjemand aus meiner Klasse zur SL beordert, weil er etwas im Tornister oder der Tasche hatte. Niemals bekam die dunkle promovierte Macht aus dem zweiten Stock «Pershing weg!!!!!!!!!!!!!!! – Auf zur Demo am 4.5.!!!!!!!!!!», «Freiheit für die Bisamratten!», «Weg mit dem § 478!», «Der wahre Weg zum Glück mit dem malaysischen Horoskop», «Jesus liebt dich», «Kein Tempolimit auf deutschen Strassen», «Lasst Hess frei» oder «Der erzwungene Krieg – die Wahrheit über 1939-1945» zu Gesicht.

Und wenn doch…
Und wenn doch…
Und wenn doch, dann wäre das ein Jahrhundertereignis gewesen. Für die Klasse, für den Betreffenden oder die Betreffende und für die ganze Schule.

Insofern ist es erstaunlich und merkwürdig, dass sich Hubsi Aiwanger so gar nicht an die Story erinnert.
Gut, vielleicht liefen in Bayern die Dinge anders als in Baden-Württemberg. Vielleicht wurde in Bayern jeder Rucksack, jeder Tornister, wurde jeder Ranzen, jede Tasche, wurde jeder Koffer durchsucht und das gründlich und jeden Morgen.
Kann ich aber nicht ganz glauben. Denn wir hatten ja damals mit der Hassfigur GMV, dem damaligen Kultusminister Gerhard Mayer-Vorfelder einen stramm rechten Gesellen, der gut nach Bayern gepasst hätte und eher rechts von Franz-Josef Strauss anzusiedeln war als links von ihm.
Nein.
Ich denke, auch in Bayern war ein «Ich-muss-zur-SL-weil-ich-ein-Flugblatt-im-Ranzen-habe» etwas Besonderes.
Und es ist schlechterdings unmöglich, dass HA sich nicht erinnern kann.

Über die Erinnerungslücken von Politikern haben wir ja schon öfter geschrieben. Man könnte hier eine ganze Ahnengalerie von Ich-kann-mich-nicht-erinnern-Menschen aufstellen, die so erlauchte Namen wie Adenauer, Strauss, Genscher, und natürlich auch unseren Scholz, der ja im Cum-Ex-Skandal keine Ahnung mehr hatte, was war.
«Ich kann mich nicht erinnern», das ist wohl der meistgesagte Satz von Politikern.

Zum Glück kann man das am Jüngsten Tage dann nicht mehr sagen, hier ist alles notiert:

Liber scriptus proferetur,
In quo totum continetur,
Unde mundus iudicetur.

Und ein Buch wird aufgeschlagen,
Treu darin ist eingetragen
Jede Schuld aus Erdentagen.

Wir hatten alle miteinander Flugblätter im Schulranzen, die 80er waren einfach das Jahrzehnt der Flugblätter und ständig sprang einer auf einen zu und drückte einem einen solchen Zettel in die Hand; damals meist noch schlecht auf einer Maschine getippt und mit schlecht kopierten Bildchen schlecht gelayoutet und dann das Ganze noch einmal schlecht vervielfältigt.

Aber nie mussten wir zur Schulleitung, um unseren Ranzen zu zeigen.
Und wenn doch:
Wir könnten uns dran erinnern.







 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 


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