Dienstag, 29. August 2023

quasi

Seit einiger Zeit rege ich mich ja darüber auf, dass mir WORD Wörter mit einer Linie unterlegt, die das Programm als «Füllwörter» brandmarkt. Sobald ich «ich habe übrigens gedacht» oder «er ist ja dann…» schreibe, erscheint eine blaue gestrichelte Linie und der Hinweis:

Versuchen Sie, Füllwörter zu vermeiden

Wobei es schon eine Frechheit ist, diese tollen kleinen Wörter als «Füllwörter» zu bezeichnen. Füllwort? Das klingt nach Wörtern, die man einfach in einen Satz hineinstopft, ohne dass sie den Sinn des Ganzen verändert. Das tun diese Wörter gerade nicht. Die Grammatiken bezeichnen diese deshalb auch als Modalpartikel, Negationspartikel, Gradpartikel, Ausdruckspartikel oder Gesprächspartikel…

Ich habe lange gedacht, dass der Grund, weshalb man Jagd auf diese schönen kleinen Wörtchen macht, wäre eine totale Fokussierung auf das Geschäftliche, Wissenschaftliche, auf das Unliterarische und Unlyrische. Heute denke ich aber, der Grund ist hauptsächlich die AI oder KI. Denn AI oder KI hat mit solchen Winzigwörtern ein klares Problem. Und wir müssen uns natürlich der AI oder KI anpassen und nicht umgekehrt…

Und so werden diese Wörter von AI und KI und WORD und Textprogramm gejagt:
…übrigens
…doch
…ja
…eigentlich

Das neueste Opfer der Jäger heisst «quasi»
Quasi.
Was für ein wichtiges, was für ein bedeutendes, was für ein zentrales Wort!
Absolut kein Füllwort!

«Quasi» wird mit den Bedeutungen an und für sich, annähernd, beinahe, eigentlich, entsprechend, etwa, fast, gewissermaßen, gleichsam, im Grunde (genommen), im Prinzip, in etwa, insofern, nahezu, nämlich, praktisch, prinzipiell, so, so gut wie, sozusagen, überhaupt, ungefähr, um es (mal) so zu sagen geführt.

Man stelle sich nur Sätze vor wie:

«Ich bin quasi der Eigentümer dieser Gartenlaube.» Das heisst doch, ich habe das (ungeschriebene oder sogar geschriebene) Nutzungsrecht, ich habe die Schlüssel, ich darf jederzeit dort sein, ich kann auch die Fenster bunt anstreichen, ich kann alles, nur nicht: Ich kann die Gartenlaube nicht verkaufen, denn ich bin NICHT der Eigentümer, ich bin es nur «quasi».

«Ich bin mit dem Roman quasi fertig». Das heisst doch, ich sehe Land, ich brauche nur noch drei Wochen, man KÖNNTE schon einen Termin für ein erstes Lektorengespräch ausmachen, ich werde keine neuen Figuren und keine neuen Orte einführen, ich sehe den Schlusssatz vor mir, aber wirklich FERTIG, so FERTIG, dass mein Lektor das Werk abholen könnte, bin ich eben nicht.

«Ich möchte die Zahlung noch ein paar Tage aufschieben, mein ausstehendes Honorar ist quasi auf dem Konto.» Heisst, das Geld ist eben NOCH NICHT auf dem Konto, es ist vielleicht angekündigt, vielleicht angesagt, vielleicht erwartet, aber es ist einfach noch nicht DA. Ich weiss nicht, ob die Stelle, der man eine grosse Summe schuldet, sich auf dieses Quasi-Spiel einlässt, das klingt doch sehr nach Ausrede…

Die Liste der Beispiele liesse sich bis ins Unendliche fortsetzen:
«Ich bin quasi der Chef.»
«Ich habe quasi promoviert.»
«Ich bin quasi Italienischer Staatsbürger.»
usw.
usw.

Nein, das schöne kleine Wort ist kein «Füllwort». Es ist wichtig, vielleicht kommt sogar ein Teil unserer Probleme daher, dass wir ständig das Echte mit dem Quasi verwechseln. Wenn eben Quasi-Experten uns eine Quasi-Lösung präsentieren und man uns unterstellt, wir seien ja quasi einverstanden, weil das ja quasi eine gute Sache ist, dann ist das eben nur quasi OK.

Seit einiger Zeit rege ich mich ja darüber auf, dass mir WORD Wörter mit einer Linie unterlegt, die das Programm als «Füllwörter» brandmarkt. Sobald ich «ich habe übrigens gedacht» oder «er ist ja dann…» schreibe, erscheint eine blaue gestrichelte Linie.
Und sie kommt eben auch bei «quasi», und ich bekomme eine Krise.

So, genug für heute. Ich lege mich jetzt aufs Sofa und höre ein wenig Musik.
Beethoven, Sonate op. 27 Nr. 2 in cis-Moll.
Mit dem völlig falschen Beinamen «Mondscheinsonate». Aber mit dem echten Untertitel

Sonata quasi una fantasia







 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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