Dienstag, 22. August 2023

Das Normale und das Besondere

Ich lese mit Schrecken in einem Internet-News-Blog:

Freitagabend in einem Gault Millau-ausgezeichneten Restaurant in Zürich. Zum Dreigänger gibts hier nicht nur die übliche Wein-, sondern auf Wunsch auch eine hybride- oder gänzlich alkoholfreie Essensbegleitung. Das Ganze wird auf der Karte mit «Stilvolle 0,0 %» angepriesen. Statt Prosecco zum Apéro gibts also Sparkling Tea aus Deutschland, statt Weisswein zur Vorspeise bekommen promillesensible Geniesserinnen Well Hirschbirne vom österreichischen Obsthof Retter ausgeschenkt und zum Hauptgang gibts Berliner Kolonne Null statt des obligaten Rotweins…

Ein paar Zeilen später wird sogar von einer «Generation Dry» gesprochen. Fazit des Ganzen ist: Saufen ist out, Saufen tun nur noch die Alten, die neue, hippe, junge und smarte Generation ist schön, sportlich, trainiert, clean, rauchfrei (das sowieso!) und jetzt auch bei 0 % Alkohol.

Ich bin total entgeistert und erschrocken, ich bin total fertig und entsetzt.
Warum bin ich total entgeistert, erschrocken, total fertig und entsetzt? Weil ich, als ich aufhörte Alkohol zu trinken, alles, alles, alles, wollte, nur nicht hip sein. Ich wollte meinen Körper und meinen Geist wieder auf die richtige Bahn lenken, aber sicher nicht «in» sein.
Im Gegenteil: Ich hatte gehofft (gehofft!), ein 0 %-Konsum würde mir ein Merkmal geben, das mich von anderen unterscheidet, das mich herausstellt, das mich auszeichnet.
Nix da.
Pustekuchen.
Ätsch.

…Die Europäer trinken weniger Alkohol. Das hat eine Befragung des Zentrums für Interdisziplinäre Suchtforschung ergeben. Demnach ist der Alkoholkonsum seit Beginn der Pandemie in allen europäischen Ländern gesunken. Ähnliche Tendenzen lassen sich in den USA beobachten…

Wir suchen doch alle etwas, das uns aus der Masse heraushebt. Eine Art (oder Unart), ein Kleidungsstück, ein Hobby, ein Körper- oder Gesichtsmerkmal. Wir gewöhnen uns an, in einer bestimmten Art an die Nase zu tippen oder vor jeder Äusserung uns zu räuspern. Wir legen uns einen bunten Topf-Hut im Ugly-Style zu. Wir fangen an, interessante Klopapierrollen zu sammeln oder Hallenhalma zu spielen. Wir lassen uns ein altaztekisches Symbol auf den Arm tätowieren oder piercen uns die Ober- oder Unterlippe.
Was aber, wenn sich alle auf einmal an die Nase tippen und sich vor jeder Äusserung räuspern? Was, wenn alle auf einmal bunte Topf-Hüte im Ugly-Style tragen? (…was ja bald der Fall sein wird…) Was, wenn alle WC-Rollen sammeln und alle Hallenhalma spielen? Was, wenn die Mehrheit tätowiert und gepierct ist? (…was ja, glaube ich, schon der Fall ist…)
Nun, dann, ja dann hebt es uns aus der Masse heraus, uns NICHT an die Nase zu klopfen und NICHT «hmhmhmhm» zu machen, dann sind wir singulär, wenn wir KEINEN Eimerhut (so heissen die ja eher) tragen, sind wir etwas Besonderes, wenn wir Briefmarken sammeln oder Skat spielen, sind wir total zu erkennen, wenn wir KEIN Tattoo haben, KEIN Piercing und KEINE aufgespritzten Lippen.

Nehmen wir doch gerade mal die unsägliche Tätowierung: Sie zeigt uns auf doppelte Weise, wie das Besondere ins Gewöhnliche und das Gewöhnliche ins Besondere kippt: Wenn – wie so häufig bei Extrem-Tattoo-Fans – der ganze Körper gestochen ist, dann erscheinen die wenigen Stellen, an denen man die blasse, weisse, normale Haut sieht, wie hervorgehoben.
Und: Wenn alle Menschen tätowiert sind, dann fällt der Nicht-Tätowierte halt umso mehr auf…

Wie schafft man es nun, etwas Besonderes zu sein?
Ich sehe eigentlich nur zwei Möglichkeiten:

Die erste ist, eine quasi umgekehrte Trend-Nase zu haben. Also jeden Trend zu spüren, zu merken, zu registrieren und dann je umgekehrt mitzumachen oder eben nicht mitzumachen. Wollen Sie ein Beispiel? Gut: Sie bekommen (durch regelmässigen Socialmediakonsum) mit, dass alle Leute sich an die Nase fassen. Und das machen Sie nicht mit, ja Sie posten sogar Videos, in denen sie demonstrativ Ihre Hände zwei Minuten in die Höhe halten. Das machen Sie ein paar Wochen so, bis – und das merken Sie sofort, weil Sie ja wachsam sind – das erste Video auftaucht, indem ein Influencer genau das macht. Dann, ja dann, ja dann, ja dann fangen SIE an, sich an die Nase zu langen.
Die Methode funktioniert, aber sie ist sehr anstrengend. Logisch. Es ist genauso nervenaufreibend, jedem Trend hinterherzulaufen wie das Gegenteil zu tun…

Die zweite ist viel, viel entspannter: Sie machen das, was Sie immer tun, Sie bleiben bei einer Sache. Und das ist zunächst normal, dann ist es für ein Jahr wahnsinnig spannend und extravagant, dann ist es wieder normal. Beispiel: Sie tragen keine Ugly-Style-Eimerhüte. Was normal ist, weil niemand Ugly-Style-Eimerhüte trägt. Dann wird es für einen Herbst Mode und alle tragen Ugly-Style-Eimerhüte und SIE sind der Herausragende, der Besondere. Das ist ein wenig so wie das Berühmtsein-für-15-Minuten, von dem Warhol redete. Und ein Jahr später trägt niemand mehr Ugly-Style-Eimerhüte und Sie sind wieder normal. Nachteil: Sie sind nicht immer berühmt. Vorteil (wie gesagt): Viel entspannter.

Ich werde es genauso machen: Ich trinke keinen Alkohol mehr und rauche keine Zigaretten. Und ich hoffe, dass nach ca. 10 Jahren Fitness-Health-Wahn die Menschheit wieder exzessiv säuft und schlotet. Und ich die Promi-Persönlichkeit bin: «Rolf Herter? Das ist der Typ Ende 60, der keinen Alkohol trinkt und nicht raucht.»





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