Dienstag, 21. Juli 2020

Mein Text ist weg


Oh!
Mein Text! Wo ist mein Text?

Ich muss ihn gelöscht haben. Oder nicht gespeichert. Was ja auf das Gleiche herauskommt. Ich habe nicht darauf geachtet, dass ich auf „SAVE“ drücke und jetzt ist er weg.
Oder habe ich doch gesaved und man hat ihn mir gelöscht? War da irgendwer zu Gange? Die NSA, der Mossad oder Bill Gates?
Ich glaube kaum, der Text war harmlos.

Aber er war gut.
Er war das Beste, was ich je geschrieben hatte. Um so schlimmer, dass ich ihn gelöscht habe oder nicht gespeichert, was ja auf das Gleiche herausläuft, oder dass Bill Gates oder die NSA oder das KGB oder Ursula von der Leyen ihn mir gelöscht haben, was ich nicht glaube.
Er war phänomenal.
Mit diesem Text hätte ich nach Klagenfurt fahren können und es wäre ein Spaziergang geworden, aber auch zu Suhrkamp oder Kiepenheuer, Fischer hätte ihn mir aus den Händen gerissen und Diogenes hätte ihn wahrscheinlich bei mir zuhause abgeholt.
Der Text war so eine Wucht, dass jeder lebende Autor blass vor Neid geworden wäre und jeder tote Autor aus dem Grabe gestiegen wäre, um mir zu applaudieren.

Ach, ich habe ihn gelöscht (oder nicht gespeichert, wie gesagt…). Er ist verloren, dahin, perduto und perdu, er ist dahin gegangen.
Dabei war er so exzellent.
Was fragen Sie? So gut wie Rilke? Besser. So gut wie Böll? Besser. So gut wie Brecht? Besser. Wie Döblin? Hören Sie doch auf, Sie können nicht alle Dichter und Poeten, nicht alle Autoren und Schriftsteller durchmachen. Es war einfach besser als alles, was in ihrem Bücherschrank steht.
Der Text hatte eine Reife, eine Raffinesse, hatte eine Schwermut und doch Leichtigkeit, hatte eine Eleganz und doch edle Grösse, hatte eine Stilsicherheit und Stringenz, dass einem schwindlig werden könnte.
Aber er ist dahin.

Warum ich ihn nicht wieder aufschreibe?
Weil er mir nicht mehr einfällt, also Bruchstücke schon, aber der Text in seiner Gesamtheit und Schönheit kommt mir nicht mehr in den Sinn.
Ich war von der Muse geküsst worden, und das kommt ja nicht immer vor, ich habe über die Musen ja schon geschrieben, sie sind träge und faul, sie sind wählerisch, sie sind eitel und zickig, sie küssen selten, aber wenn sie küssen, dann kommt eben so ein toller Text heraus, aber wenn Sie sich dann noch einmal an die Musen wenden, dann kommt die lapidare Antwort:
«Wenn du nicht speicherst, selbst schuld.»

Natürlich weiss ich noch, um was es ging: Ein Mann sitzt auf einem Sofa, in einem Zimmer, trinkt Wein und schaut aus dem Fenster. Und denkt an den Frühling.
Tja, sagen Sie, das ist ja ganz simpel. Haben Sie recht. Aber wie ich es formuliert hatte!
Man konnte das Sofa in seiner ganzen Form, seiner Farbe und Stofflichkeit vor sich sehen, nein, mehr, man konnte es spüren, konnte es riechen, meine Worte bewirkten, dass Sie förmlich mit Ihren Fingern über die Polsterung streichen konnten.
Und wie ich den Mann beschrieben habe!
Man sasss ihm gegenüber, und schon die ersten Worte der Beschreibung machten ihn in seiner ganzen Existenz, seinem Wesen und seinem Schicksal klar.
Und wie ich den Wein geschildert hatte!
Man roch ihn, man schmeckte ihn, man spürte ihn auf der Zunge, man fing wirklich an, Bewegungen mit dem Gaumen zu machen, um den Abgang besser zu erkunden.

Und ich habe ihn gelöscht! (Oder nicht gespeichert…)
Ach, ich habe ihn verloren, all` mein Glück ist nun dahin! Unglücksel`ges kleines Textlein, dass ich dich nicht finden kann!

Allerdings sind zwei Dinge positiv:
Ich reihe mich ein in eine grosse Phalanx grosser Dichter, von denen Texte verbrannten, verloren gingen, Texte verschüttet und begraben wurden, Texte, von denen es natürlich keine Abschriften gab. Die Frau von Hemingway soll einmal einen Koffer mit zwei Manuskripten auf dem Bahnhof verloren haben, was genauso bescheuert ist, wie etwas nicht zu speichern.
Zweitens:
Ich kann mich nun immer auf den gelöschten Text berufen.
Ja, ich hatte auch mal was geschrieben, was Suhrkamp locker genommen hätte, dummerweise hatte ich es nicht gespeichert.
Ja, nach Klagenfurt hätte ich auch gekonnt, ich habe blöderweise den Text gelöscht.
Diogenes hätte das ohne Probleme akzeptiert, aber der Text war weg.

Mein Text! Wo ist mein Text?
Aber der Text über den verlorenen Text ist ja nun auch ein ganz netter Text geworden.  

   



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