Dienstag, 30. Juni 2020

Kontrolle ist besser


Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser.
Dieser Spruch wird dem russischen Politiker Lenin zugeschrieben.
Und ich habe ihn nie kapiert.

Anders gesagt: Ich habe das Prinzip Kontrolle nie verstanden.

Warum muss man eine Fleischfabrik kontrollieren, warum muss eine Behörde vorbei, warum muss man Fotos machen und Unterlagen anschauen, wenn der Inhaber doch versprochen hat, die Zustände zu verbessern, schmerzlosere Schlachtung der Tiere, mehr Hygiene und bessere Arbeitsbedingungen für die Mitarbeiter? Er hat vor 10 Jahren doch gesagt, dass jetzt alles besser wird, und da muss man ihm doch glauben, oder?

Warum muss es eine Finanzaufsicht geben, wenn die Chefs von Finanzdienstleister- und Finanztransferfirmen doch klar sagen, dass alles in Ordnung ist? Sie sagen doch, dass da Milliarden Rücklagen sind, auf Konten in Shanghai und Tokio, in Hongkong und auf Hawaii. Warum muss hier eine Behörde die Bücher durchsehen, die Dateien durchforsten, getrieben, gepuscht, gestossen und gehetzt von einem Misstrauen, einem Misstrauen, das besagt, die Milliarden könnten irgendwo verschwunden sein oder hätten nie existiert? Das ist doch blöde, oder?

Warum muss Amnesty International Gefängnisse kontrollieren, wenn die Diktatoren Badudistans doch Videos schicken, in denen man sieht, dass die Gefängnisse in Badudistan eigentlich Hotels sind, Einzelzimmer, mit WC und Dusche, mit Fernseher und W-Lan, und wenn die Gefangenen überhaupt etwas tun, dann singen und tanzen. Da muss doch keine Kommission von AI dorthin und schauen, ob es nicht etwa – nennen wir das schreckliche Wort – Folter gibt. Oder?

Ich verstehe das Prinzip Kontrolle nicht.
Jetzt können Sie sagen, ich sei ein wenig naiv, ein wenig kindlich, ein wenig auf dem Stand eines 14jährigen. Sie werden sagen, ich sei doch zu gutgläubig, zu nett und menschenfreundlich, zu sehr Gutmensch oder einfach blöde.
Wie in dem Gedicht von Erich Kästner:

Hier liegt ein Mensch,
der an die Menschheit glaubte.
Er war dümmer,
als die Polizei erlaubte.

Stimmt aber so alles nicht. Ich bin selbst so gestrickt, dass man sich auf mich verlassen kann. Können, glaube ich, meine Kollegen und Freunde bestätigen. Wenn ich befürchte, einen Text bis Montag nicht zu schaffen, dann sage ich am Samstag, dass ich eine Deadline bis Mittwoch brauche, und die wird dann auch eingehalten. (Meistens – Smiley – kommt der Text dann Sonntag Nachmittag.)
Wenn ich sage, ich bringen einen Kuchen mit, bringe ich einen Kuchen mit.
Wenn ich sage, ich kaufe zwei Flaschen Wein, dann kaufe ich zwei Flaschen Wein.
Wenn ich sage, ich ändere die Datei, dann…
Na?
Sie ahnen es: Ich ändere die Datei.
Wenn ich…
Wenn ich…

Es gehört zu den schmerzlichen Erfahrungen meines Lebens, dass so viele Leute eben Kontrolle brauchen.
Der Fleischfürst wird nichts, gar nichts, zero, nada, rien, 0% ändern, wenn er nicht weiss, dass er in einem halben Jahr einer scharfen Kontrolle unterzogen wird. Einer Kontrolle, die so scharf ist, dass seine besten Schlachtermesser dagegen so stumpf wie Kochlöffel sind.
Der Finanzheini wird mauscheln und mogeln, wenn er nicht weiss, dass die Finanzkontrolle ihm bei jeder Buchung und bei jedem Klick auf die Finger schauen wird. Und schauen, dass die Finger sauber bleiben und nicht an ein Sartre-Drama erinnern, und auch, dass sie nicht lang werden.
Und Badudistan wird seine Lügenvideos erst zurückziehen, wenn Amnesty diese Videos eben als Lügen entlarvt hat.

Nun gibt und gab es ja Kontrollen, und die haben im Fall von – jetzt müssen wir doch Namen nennen – Tönnies und Wirecard so vollständig versagt wie die Trojaner bei der Verteidigung ihrer Stadt und der Schneider von Ulm beim Fluge, absolut versagt wie Samson bei der Einhaltung seines Gelübdes und Florence Foster Jenkins beim sauberen Treffen der Königin-Koloraturen.
Es stellt sich also noch eine Frage:
Wer kontrolliert die Kontrolleure?
Vielleicht brauchen wir Kontrollbehörden-Überwacher.
Wer beaufsichtigt dann aber die Kontrollbehörden-Überwacher?
Brauchen wir eine Kontrollbehörden-Überwacher-Aufsicht?
Und dann eine Kontrollbehörden-Überwacher-Aufsicht-Kontrolle?

Die Reihe lässt sich ins Unendliche fortsetzen. Am Ende steht dann eine über allen Zweifel erhabene, ehrliche und unkorrupte Person.
Also zum Beispiel ich.
Oder besser: Der Dalai-Lama. Oder vielleicht der Papst. Oder warum nicht gleich: Der Allmächtige selbst.

Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser.
Dieser Spruch wird dem russischen Politiker Lenin zugeschrieben.
Und ich habe ihn nie kapiert.
Anders gesagt: Ich habe das Prinzip Kontrolle nie verstanden.

Aber es ist unabdingbar.



 

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