Dienstag, 16. Juni 2020

Bitte keine Vollständigkeit


Kennen Sie eine lokrische Tonart? Natürlich nicht. Man kann in lokrisch auch nicht spielen, die Tonleiter fängt gleich mit einem Halbton an und der Grunddreiklang des Lokrischen ist ein verminderter Dreiklang h – d – f. Wikipedia schreibt dazu:
Der Lokrische Modus, kurz Lokrisch, (nach den Lokrern), seltener auch „Hyperäolischer Modus“, ist ein moderner Modus, der im System der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Kirchentonarten nicht enthalten war. Er wurde in neuerer Zeit als „Vervollständigungsmodus“ hinzugefügt.
Vervollständigung!

In einer Englischen Grammatik finde ich eine Liste der Zeiten im Englischen. Sie enthält das Simple Present, das Simple Past, das Present Perfect, das Past Perfect, die beiden Arten Futur I (will und going to) und das Future Perfect. Dazu kommt zu jeder Zeit noch die Continuos-Form. Bilden wir nun das Future Perfect Continuos von talk stossen wir auf einen Satz wie
Tomorrow at 12 PM we will have been talking for one hour.
Braucht natürlich keine Sau, aber in einer ordentlichen Grammatik muss dass der Vollständigkeit halber dabei sein.

Der Vollständigkeit halber untersucht mich mein Gastroenterologe nicht nur auf Laktoseintoleranz und Zöliakie, sondern auch auf allergische Reaktionen bei Meeresfrüchten, Kängurufleisch, Cranberrys, gekochtem Mangold, geriebenem Parmesan, Kumquats, gebratenem Dorsch und Himbeereis.  Alles übrigens negativ, die Verdauungsstörungen – so stellen wir dann fest – kommen von Polypen.

Der Vollständigkeit halber schaut der Mann im Reisebüro noch nach, ob der Flug nach Wladiwostok nicht doch kürzer und/oder günstiger wäre, wenn man nicht in Moskau, sondern in Peking, Shanghai, Dubai, Kapstadt, New York oder Tokio umsteigt.

Der Vollständigkeit halber erwähnt der Referent, der über den Ausbau des ÖV in Europa berichtet, nicht nur die TGV-Strecken in Frankreich, die S-Bahn in Deutschland und viele andere Projekte, sondern auch die Situation in Liechtenstein, San Marino, Andorra, Monaco und dem Vatikanstaat. (Der übrigens, wenn man Meter Schiene pro km2 rechnet, eines der dichtesten Schienennetze der Welt hat, aber das ist ein anderes Kapitel…) 

Der Vollständigkeit halber…

Ich hasse keinen Ausdruck so sehr wie diesen und kein Phänomen so sehr wie die Vollständigkeit. Wenn jemand Luft holt und das böse Wort sagen will, also «….der Vollständigkeit halber…», dann bekomme ich Muskelzittern und Schweissausbrüche, manchmal renne ich auf WC und muss mich übergeben, manchmal beruhigt mich dann eine Zigarette oder ein Gin Tonic. Wenn mein Gegenüber diesen Ausdruck in den Mund nimmt, dann muss ich mich sehr beherrschen, dass ich ihm nicht ins Gesicht schlage, in die Waden beisse oder ihm die Haare ausrupfe.

Zum Vollständigskeitswahn gehören natürlich auch viele Projekte der kulturellen Szene.

Will man wirklich in die Ausstellung «Frodrich von Gutschlick – 1940 bis 1985», die das gesamte zeichnerische Werk des deutschen Künstlers zeigt, also 47 Kleinbilder mit Bäumen, 176 Portraits, 58 Strassenszenen seiner Heimatstadt Bokkom an der Bokke?
Will man wahrscheinlich nicht. Es wäre vernünftiger, die besten seiner Zeichnungen auszuwählen und sie in Verbindung mit anderen Künstlern seiner Zeit zu setzen.
Will man wirklich sich die Gesamtausgabe der Gedichte von Maria Schlasinger (3 Bände, gebunden, insgesamt 678 Seiten, 249.--) kaufen?
Will man nicht, Maria Schlasinger (1786–1834) hat einige wahre Juwelen geschrieben, aber auch Strass und Talmi abgeliefert, und dass man ihr (sicher wundervolles) Poem Winterabend an der Ems in sämtlichen Fassungen (1806, 1808, 1815, 1817, 1820, 1822, 1823, 1833 und 1834) findet, ist nur für die wenigen Germanisten, die zurzeit über sie arbeiten (hat es überhaupt solche?) spannend.

Und erst die CDs! Da haben die Hofmusiker der Barockzeit Hunderte von Concerti geschrieben, aber doch nur, weil der Fürst, der König, der Kaiser, weil der Regent, der Baron, weil der Graf, Freiherr oder Edler jeden Samstag ein neues wollte. Niemals, niemals nie, zu keiner Zeit wäre der Fürst, Kaiser oder Edler, wäre der Regent, Baron, Freiherr, wäre der Fürstbischof oder Kurfürst, wäre der König auf die Idee gekommen, sich die ca. 200 Konzerte der letzten Jahre noch einmal am Stück anzuhören. Aber genau das machen wir jetzt. Wir produzieren CDs mit sämtlichen Sonaten von ..., mit sämtlichen Konzerten von ..., mit sämtlichen..., sämtlichen...
Ein Stuttgarter Geiger hat einmal alle Violinkonzerte von Antonio Vivaldi eingespielt. Er sagte damals, nach dem zehnten müsste er nicht mehr üben, es käme nichts neues mehr...

So, das reicht für heute. 

Müsste ich aber nicht noch x erwähnen, oder y, oder z?
Der Vollständigkeit halber?

Nein, muss ich nicht. 



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