Kennen Sie eine lokrische Tonart? Natürlich
nicht. Man kann in lokrisch auch nicht spielen, die Tonleiter fängt gleich mit
einem Halbton an und der Grunddreiklang des Lokrischen ist ein verminderter
Dreiklang h – d – f. Wikipedia schreibt dazu:
Der
Lokrische Modus, kurz Lokrisch, (nach den Lokrern),
seltener auch „Hyperäolischer Modus“, ist ein moderner Modus,
der im System der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Kirchentonarten
nicht enthalten war. Er wurde in neuerer Zeit als „Vervollständigungsmodus“
hinzugefügt.
Vervollständigung!
In einer
Englischen Grammatik finde ich eine Liste der Zeiten im Englischen. Sie enthält
das Simple Present, das Simple Past, das Present Perfect, das Past Perfect, die
beiden Arten Futur I (will und going to) und das Future Perfect. Dazu kommt zu
jeder Zeit noch die Continuos-Form. Bilden wir nun das Future Perfect Continuos
von talk stossen wir auf einen Satz wie
Tomorrow at 12 PM we will have been
talking for one hour.
Braucht
natürlich keine Sau, aber in einer ordentlichen Grammatik muss dass der
Vollständigkeit halber dabei sein.
Der
Vollständigkeit halber untersucht mich mein Gastroenterologe nicht nur auf
Laktoseintoleranz und Zöliakie, sondern auch auf allergische Reaktionen bei
Meeresfrüchten, Kängurufleisch, Cranberrys, gekochtem Mangold, geriebenem
Parmesan, Kumquats, gebratenem Dorsch und Himbeereis. Alles übrigens negativ, die
Verdauungsstörungen – so stellen wir dann fest – kommen von Polypen.
Der
Vollständigkeit halber schaut der Mann im Reisebüro noch nach, ob der Flug
nach Wladiwostok nicht doch kürzer und/oder günstiger wäre, wenn man nicht in
Moskau, sondern in Peking, Shanghai, Dubai, Kapstadt, New York oder Tokio
umsteigt.
Der
Vollständigkeit halber erwähnt der Referent, der über den Ausbau des ÖV in Europa
berichtet, nicht nur die TGV-Strecken in Frankreich, die S-Bahn in Deutschland
und viele andere Projekte, sondern auch die Situation in Liechtenstein, San
Marino, Andorra, Monaco und dem Vatikanstaat. (Der übrigens, wenn man Meter
Schiene pro km2 rechnet, eines der dichtesten Schienennetze der Welt hat, aber
das ist ein anderes Kapitel…)
Der
Vollständigkeit halber…
Ich hasse
keinen Ausdruck so sehr wie diesen und kein Phänomen so sehr wie die
Vollständigkeit. Wenn jemand Luft holt und das böse Wort sagen will, also
«….der Vollständigkeit halber…», dann bekomme ich Muskelzittern und
Schweissausbrüche, manchmal renne ich auf WC und muss mich übergeben, manchmal
beruhigt mich dann eine Zigarette oder ein Gin Tonic. Wenn mein Gegenüber
diesen Ausdruck in den Mund nimmt, dann muss ich mich sehr beherrschen, dass
ich ihm nicht ins Gesicht schlage, in die Waden beisse oder ihm die Haare
ausrupfe.
Zum
Vollständigskeitswahn gehören natürlich auch viele Projekte der kulturellen
Szene.
Will man
wirklich in die Ausstellung «Frodrich von Gutschlick – 1940 bis 1985», die das
gesamte zeichnerische Werk des deutschen Künstlers zeigt, also 47 Kleinbilder
mit Bäumen, 176 Portraits, 58 Strassenszenen seiner Heimatstadt Bokkom an der
Bokke?
Will man
wahrscheinlich nicht. Es wäre vernünftiger, die besten seiner Zeichnungen
auszuwählen und sie in Verbindung mit anderen Künstlern seiner Zeit zu setzen.
Will man
wirklich sich die Gesamtausgabe der Gedichte von Maria Schlasinger (3 Bände,
gebunden, insgesamt 678 Seiten, 249.--) kaufen?
Will man
nicht, Maria Schlasinger (1786–1834) hat einige wahre Juwelen geschrieben, aber
auch Strass und Talmi abgeliefert, und dass man ihr (sicher wundervolles) Poem
Winterabend an der Ems in sämtlichen Fassungen (1806, 1808, 1815, 1817, 1820,
1822, 1823, 1833 und 1834) findet, ist nur für die wenigen Germanisten, die
zurzeit über sie arbeiten (hat es überhaupt solche?) spannend.
Und erst die
CDs! Da haben die Hofmusiker der Barockzeit Hunderte von Concerti geschrieben,
aber doch nur, weil der Fürst, der König, der Kaiser, weil der Regent, der
Baron, weil der Graf, Freiherr oder Edler jeden Samstag ein neues wollte.
Niemals, niemals nie, zu keiner Zeit wäre der Fürst, Kaiser oder Edler, wäre
der Regent, Baron, Freiherr, wäre der Fürstbischof oder Kurfürst, wäre der
König auf die Idee gekommen, sich die ca. 200 Konzerte der letzten Jahre noch
einmal am Stück anzuhören. Aber genau das machen wir jetzt. Wir
produzieren CDs mit sämtlichen Sonaten von ..., mit sämtlichen Konzerten von ..., mit sämtlichen..., sämtlichen...
Ein Stuttgarter Geiger hat einmal alle Violinkonzerte von Antonio Vivaldi eingespielt. Er sagte damals, nach dem zehnten müsste er nicht mehr üben, es käme nichts neues mehr...
So, das reicht für heute.
Müsste ich aber nicht noch x erwähnen, oder y, oder z?
Der Vollständigkeit halber?
Der Vollständigkeit halber?
Nein, muss ich nicht.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen