Holger ist vor einem Jahr in seine jetzige Wohnung gezogen
und lebt immer noch mit einigen Provisorien.
Stopp.
Das ist jetzt sehr euphemistisch, es müsste heissen:
Holger ist vor einem Jahr in seine jetzige Wohnung gezogen und lebt immer noch
nur mit Provisorien. Der Koffer auf dem Boden ist natürlich kein Kleiderschrank
und auch die Matratze auf dem Boden ist kein Bett. Der Camping-Klapptisch ist
ein Provisorium und die Campingstühle sicher auch. Dass er sich morgens einen
Nescafé macht, ist ein Provisorium, bis er endlich einen Kaffeeautomaten kauft
und die Billig-Kochtöpfe, in denen er Tütensuppen kocht, sind es auch.
Wenn Holger dann morgens an der provisorischen
Bushaltestelle steht (Bauarbeiten) und sich zur provisorischen Endhaltestelle
(Strassenbau) fahren lässt und in der provisorischen Bahnhofshalle
(Baumassnahmen) sich am provisorischen Kiosk (Umbau) ein Sandwich holt, dann
denkt er so über sein Leben nach.
Die Wohnung, in der er aufwuchs, war eigentlich auch nur
provisorisch. Sie hatte zwar Kleiderschränke, Tische, Stühle, hatte Betten und
Gardinen, es gab eine Kaffeemaschine und in der Küche gab es echte Pfannen und
Töpfe, aber auf ewig wollte man in der provisorischen Bleibe nicht hausen.
Wahrscheinlich, so denkt er, begann das mit den provisorischen Sachen schon
viel früher. Sein Vater war nämlich auch nur so eine Art Provisorium, ein
Provisorium, bis der grosse, stolze Prinz käme, der Prinz, von dem Holgers
Mutter die ganze Pubertät geträumt hatte, der Märchenprinz mit Sixpack und
Bizeps, mit viel Geld und noch viel mehr Charme, aber bis der käme, nahm man
sich halt den 160 cm grossen, leicht untersetzten Angestellten, der zudem noch
ein wenig introvertiert war. Und weil seine Mutter es nicht schaffte, endlich
zum Frauenarzt zu gehen und sich die Pille verschreiben zu lassen, machte sie
provisorisch Knaus-Ogino… und dann kam Holger.
Nach der
obligatorischen Schulzeit war eigentlich fast klar, dass Holger erst mal etwas
provisorisch macht, und bei diesem provisorischen Job in einer Currywurst-Bude
ist er nun auch schon 15 Jahre geblieben. (Die Currywurst ist, so denkt Holger
oft, ja auch nur aus einer provisorischen Lösung entstanden, als nämlich Herta
Heuwer diese Sauce zusammenmixte, weil es im Nachkriegsberlin keinen Senf gab…)
Holger hat auch eine provisorische Freundin, bis das Topmodel mit Promotion,
die Frau mit unendlich Geld und unendlich Charme auftauchen wird; allerdings
benutzt er Kondome, damit nicht das Gleiche wie bei seinen Eltern passiert und
das sind sogar – man höre und staune – LOVEPUT extra strong® aus der Drogerie
und nicht irgendwelche Tütlein als Provisorium.
Wenn nun
Holger morgens an der provisorischen Bushaltestelle steht (Bauarbeiten) und
sich zur provisorischen Endhaltestelle (Strassenbau) fahren lässt und in der
provisorischen Bahnhofshalle (Baumassnahmen) sich am provisorischen Kiosk
(Umbau) ein Sandwich holt, und über Provisorien
nachdenkt, dann macht er einen entscheidenden Fehler:
Er
vergleicht Äpfel mit Birnen.
Die
Bauarbeiten werden am 15.6. beendet sein und sein Bus wird wieder von der
normalen Haltestelle abfahren. Ebenso wird der Strassenbau am 1.7. ihr Ende
finden, auch die Endhaltestelle liegt dann wieder am normalen Platz. Am 2.8.
schliesslich wird die neue Bahnhofshalle eingeweiht und mit ihr die neuen
Kioske. Es gibt also Provisorien, die sind notwendig und richtig, aber diese
Provisorien sind zeitlich begrenzt.
Genauso
gibt es solche, die sich als toll und super herausstellen, wie die Currywurst.
Auch als es wieder Senf gab, hatte man die Sauce von Frau Heuwer einfach
liebgewonnen, und man wollte gar nichts mehr anderes haben.
Diese
Provisorien kann man nicht mit denen Holgers vergleichen. Sein Job, seine
Wohnung, sein Bett, sein Nescafé, sein Koffer usw. sind weder besser noch
unterliegen sie irgendeiner zeitlichen Begrenzung.
Warum aber
halten sich so viele provisorische Dinge?
Das ist
eine der Fragen, mit der sich die Psychologie erst seit ca. 15 Jahren
beschäftigt, das Stichwort heisst Prokrastination (von lat. cras = morgen),
Aufschieben, wir schieben es auf morgen und morgen schieben wir es dann auf
übermorgen, immer weiter und weiter.
Gestern
hat Holger im Bus ein religiöses Traktat gefunden, in dem stand:
Und ich sah einen neuen Himmel und eine neue
Erde; denn der erste Himmel und die erste Erde sind vergangen, und das Meer ist
nicht mehr. (Offenbarung 21,1)
Dies hat
Holger in seinem jetzigen Leben eher bestärkt, denn, so dachte er:
Ist die
ganze Erde nicht auch ein Provisorium?
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