Meine
Nachbarin Ruth ist Rentnerin und manchmal ein wenig unterbeschäftigt, wenn die
Langeweile sie in ihrer kleinen Wohnung anspringt, dann stellt sie den
Fernseher an und schaut viel dummes Zeug, oder sie trinkt ein wenig zu viel
oder sie schläft einfach einen ganzen Tag. Ich schlage ihr vor, sie solle doch
mehr Ausflüge machen, einfach mal raus, unter die Leute, einfach mal einen Trip
in die Innerschweiz oder die Romandie, sie könne doch mal das wunderschöne
Impressionisten-Museum am Römerholz in Winterthur besuchen und nach Monet,
Manet und Renoir, nach Pissarro und Cézanne dort auf der herrlichen Terrasse ein
Glas Weisswein trinken, sie könne an den Neuenburger oder den Genfer See oder
mal ins Richard-Wagner-Heiligtum Tribschen. Ist ihr aber alles zu aufwändig
und zu teuer, sie spare, so sie zu mir, für eine grosse Reise, 4 Wochen
Südfrankreich, dort werde sie dann alles das machen, Wein trinken und Monet
gucken und Wasser geniessen und gut essen. Sagt sie aber schon drei Jahren –
und wir beide wissen: Die Reise wird nicht stattfinden.
Mein Freund
Bocko schreibt. Aber nicht wie ich, so jeden Dienstag und Freitag eine
Petitesse, nein er schreibt an einem grossen, dreiteiligen Roman, der erste
Teil über seinen Urgrossvater, der zweite Teil über seinen Opi und der dritte –
Sie erraten es! – über seinen Erzeuger. Jeder Roman wird 1000 Seiten haben, und
die Trilogie wird sich vom 19. bis ins 21. Jahrhundert erstrecken.
Selbstverständlich kann man aus so einem Opus keine Teile vorlesen, und so
wartet der Freundeskreis seit Jahren auf etwas Geschriebenes von Bocko, und
natürlich wird man nie etwas zu hören bekommen, Bocko ist sechzig und im
Uropa-Band auf Seite 678…
Muss ich
noch von meiner Bekannten Uscha erzählen, der ich seit Monaten rate, endlich
einmal ihr Arbeitszimmer aufzuräumen und den Urwald von Steuerunterlagen,
Rechnungen und Verträgen, den Dschungel von Privatpost, Kontoauszügen und
Einladungen, der auf ihrem Schreibtisch wildest wuchert mit der Machete der
Ordnung zu bekämpfen? Muss ich erwähnen, dass auch sie ein Grossprojekt hat,
das Grossprojekt «Wohnung neugestalten», und dass, weil das Arbeitszimmer an
einen völlig anderen Ort kommt, sie ja jetzt den Schreibtisch gar nicht
aufräumen muss, denn wenn dann alles neu wird, dann, ja dann…
Wir alle
haben solche Grossprojekte.
Und meistens
sind sie nur die Ausrede, nicht irgendwo anzupacken. Wir sparen für die Reise
nach Tokio und schaffen es nicht mal in den Thurgau. Wir üben an einer
einstündigen spätromantischen Sonate, und damit müssen wir unser Leben lang
keinem Menschen etwas vorspielen. Wir sagen allen, dass wir im nächsten Jahr
endlich einmal die grosse Einladung machen, die grosse Einladung für 50
Personen mit Apéro und Dreigang-Menü und vertrösten damit die Leute, die
eigentlich nur einen Kaffee bei uns trinken wollen.
Dabei wäre
es ein Leichtes, beides, das Kleine und das Grosse, mit einander zu
kombinieren. Ruth könnte einen Tag in der Woche in ein Schweizer Museum fahren
und hätte immer noch genügend Kohle für einen Monat Nizza. Bocko könnte einmal
pro Woche eine Shortstory schreiben und könnte Motive daraus sogar später in
den Roman integrieren. Uscha könnte ihr Pult aufräumen, die Dokumente in
Stehsammler packen, und genau diese Sammler dann ins neue Zimmer tragen. Aber
da denke ich einfach zu praktisch…
Denn diese
Leute wollen ja nichts tun.
Oder können
nicht.
Oder stehen
sich im Weg.
Das
Grossprojekt ist die Entschuldigung für sich selbst, in Untätigkeit zu
verharren und nichts von sich preisgeben zu müssen.
Schlimm wird
es, wenn solche Grossprojekte in die Politik und die Öffentlichkeit einziehen.
Haben Sie schon je einen Politiker gehört, der einen Satz mit «Bis nächstes
Jahr…» anfing?
Nein.
Wir stecken
grosse, weite Ziele:
Bis 2060
soll der ÖV alle Orte erreichen.
Bis 2070
sollen alle Atomwaffen von der Erde verschwinden.
Bis 2030 will
die Gemeinde X schuldenfrei sein.
Bis 2080
wollen wir nur noch 1/8 des CO2 ausstossen.
Alle Ziele
so langfristig, dass der, der sie steckt, es gar nicht mehr erlebt.
Ich muss
aufhören, eben klingelt Ruth und will mit mir nach Liestal – Kaffee trinken.
Und Bocko ruft an, er müsse mir ein Gedicht vorlesen. Und eine Mail von Uscha,
ob ich Klarsichthüllen habe.
Es besteht
also doch noch Hoffnung.
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