Konstatieren
wir mal die Fakten:
Ich weiss,
wie man Fussball spielt und spiele gelegentlich sogar selber.
Ich kenne
die Regel, weiss was ein Offside und ein Foul ist.
Ich weiss,
dass alle 4 Jahre eine von der FIFA veranstaltete Weltmeisterschaft stattfindet.
Ich weiss,
dass die WM gerade in Russland über die Bühne geht.
Ich weiss,
dass meine Wahl- und meine Echtheimat dabei sind.
Ich weiss,
dass der Gastgeber dabei ist (das Gastland ist immer gesetzt) und ich weiss,
dass San Marino NICHT teilnimmt.
Aber:
Ich weiss
nicht alle Teilnehmer.
Ich kenne
nicht die Gruppen.
Ich werde
kein einziges Spiel anschauen.
Ich werde
kein Ergebnis im Kopf haben, es sei denn der BLICK titelt so gross, dass man es
nicht überlesen kann.
Bin ich
nicht ganz normal? Was stimmt mit mir nicht? Oder anders gesprochen: Ist mein
Zustand nicht doch so pathologisch, dass ich Hilfe benötige? Ich beschliesse,
mich an Profis zu wenden.
Die meisten
Beratungsstellen sind allerdings keine Hilfe, «Wenn Sie etwas nicht
interessiert, dann interessiert Sie das nicht», bekomme ich zu hören, oder
«Dann gucken Sie halt keine Spiele», erst die fünfte Stelle nimmt meine Sorgen
ernst. «Um Himmels willen», ruft die Dame der Spiel-Phobiker-Selbsthilfe, «da
vereinsamen Sie ja völlig, da werden Sie ja zum Sozialproblematiker!» Zum Glück
kennt sie einen Fachmann, den auf Anti-Fussball-Psychosen spezialisierten Dr.
med. Rudi Dumf-Engs.
Die Praxis
des Psychiaters liegt im 3. Stock eines 50er-Jahre-Gebäudes in der Basler
Innenstadt. Schon beim Hineinkommen ist klar zu erkennen, dass Dumf-Engs ein
grosser Fussballfan ist; die Wände sind mit Bildern grosser Spieler (Pelé,
Beckenbauer, Maradona, Beckham etc.) dekoriert und auf den Tischen im
Wartezimmer liegen nicht die GALA, Schöner Wohnen oder Frau mit Herz, sondern der Kicker
und die 11 Freunde.
Der
grossgewachsene, grauhaarige, stattliche Arzt bittet mich in sein Sprechzimmer;
ich darf mich auf die Couch legen und mein Problem schildern. Dumf-Engs nickt
vertrauensvoll, dann heisst er mich die Augen schliessen und eine Weile zu
Stichworten von ihm Bilder erscheinen lassen. Ein paar Minuten tut sich nichts,
dann aber fange ich an zu stammeln:
«Langweilig…
es ist so langweilig…die spielen gar nicht…ich bin am Einschlafen…ich wollte
doch für meine Feriencamp-Jungs…ich meine auf dem Laufenden sein…und dann
spielen die gar nicht…die schieben nur den Ball hin und her…das ist so öde…»
«Haben Sie
1982 in einem Feriencamp gearbeitet?»
Ich erwache
wie aus einer Trance: «Stadtranderholung, die waren nur tagsüber da, aber…
aber…wie kommen Sie auf 1982?»
«Was Sie
gerade geschildert haben, ist der sogenannte Nichtangriffspakt von Gijón, auch als Schande von Gijón bezeichnet, bei der die deutsche und die
österreichische Nationalmannschaft nicht wirklich spielten, weil man vorher die
benötigten Punkte ausgerechnet hatte. Deutschland musste gewinnen, Österreich
durfte nur knapp verlieren, und als in der 10. Minute das 1:0 erreicht war,
hörte man auf zu kämpfen.»
«Sie kennen
das Spiel?»
«Guter Mann,
es ist Legende. Da sind Bücher darüber geschrieben worden. Ich glaube, da haben
wir klar Ihr Trauma gefunden. Aber wenn Ihnen dieser Match den Fussball
verleidet hat – was ich verstehen kann – dann kann ich Ihnen klar sagen, dass
so etwas nicht mehr vorkommen kann.»
«Weil Fussball
anständiger geworden ist?»
«Nein, weil
man seit dem Nichtangriffspakt von Gijón,
der Schande von Gijón die beiden
letzten Gruppenspiele gleichzeitig stattfinden lässt, damit keine Mannschaft
sich irgendetwas ausrechnen kann, so etwas wie 1982 wird nie mehr vorkommen.»
Frohgemut
verlasse ich die Praxis, kaufe mir sämtliche Fussballmagazine, die es am Kiosk
gibt, setze mich in ein Café und beginne die Gruppen auswendig zu lernen. Ich
kreuze mir die Spiele an, die ich zeitlich verfolgen kann und beginne mich zu
freuen.
Es ist
wunderbar, wie schnell Dr. Rudi Dumf-Engs mein Problem bei der Wurzel packen
konnte.
Die Frage,
die sich nun stellt, ist:
Gibt es
ähnliche Ärzte auch für Nicht-Leser, für Nicht-Theatergeher, gibt es sie für
Nicht-Kunstinteressierte und für Nicht-Klassikhörer? Wahrscheinlich weniger.
Aber das ist schade. Warum ist es pathologisch, nicht zu wissen, wer in die
Achtelfinale kommt, aber nicht pathologisch, nicht zu wissen, wer den
Literaturnobelpreis 2018 bekommt? Was der Streit über die Volksbühne beinhaltet?
Warum schaut einen jede(r) entsetzt an, wenn man «Ach, ist gerade WM?», aber
niemand, wenn man «Ach, war gerade ART?» sagt?
Es bräuchte
noch viele Psychiater.
P.S. Der
Nobelpreis 2018 wird gar nicht verliehen, das könnte man als Schande von Stockholm bezeichnen.
ABER DAS
WISSEN SIE HOFFENTLICH.
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