Dienstag, 5. Dezember 2017

Weihnachtsmarktsucht



Der ältere Mann betritt das Zugabteil und blickt um sich, er scheint einen Platz zu suchen, was im ersten Zug nach Biel nicht so schwer ist, der ganze Wagen ist leer. Aber plötzlich scheint er etwas Furchtbares, etwas Grausames, er scheint etwas Brutales, Schlimmes, etwas Arges entdeckt zu haben, seine Augen weiten sich, seine Schläfenadern schwellen an und aus seinem Mund kommt ein Schrei, der in Tonhöhe, Lautstärke und Schrillheit dem berühmten Dusch-Schrei aus Hitchcocks Psycho in nichts nachsteht. Er rast durch das Abteil und reisst alle Exemplare des SBB-Magazins VIA von den Haken, die er danach in den nächsten Papierkorb stopft. Ermattet lässt er sich auf die Polster einer der Sitzgruppen sinken und atmet heftig.
Nun bin ich an schrägen Vögeln ja immer interessiert, nicht nur, weil ich selber einer bin, sondern weil sie mir Material für meinen Blog liefern. Und auch hier werde ich fündig, ich setze mich zu dem Mann und sehe ihn fragend an. «Die Titelgeschichte», japst er, «haben Sie die Titelgeschichte nicht gesehen? Weihnachtsmärchen – über den Weihnachtsmarkt in Colmar! Das muss sofort aus meinen Augen!» Und ein paar Augenblicke später beginnt der Mann zu erzählen:

Er sei weihnachtsmarktsüchtig gewesen, seit diesem Jahr clean, aber wenn er mit einer solchen Werbung konfrontiert werde, dann brauche es manchmal heftige Massnahmen, um nicht einen brutalen Rückfall zu erleiden.
Begonnen habe das alles im Jahre 2015, da sei er im Herbst in den Ruhestand getreten, habe auf einmal Zeit gehabt, er sei Witwer, die Kinder wohnten im Ausland, Zeit habe er gehabt und dann sei ihm an einem Vormittag ein Prospekt der Firma Gubsi-Reisen in den Briefkasten geflattert. Gubsi-Reisen seien auf Weihnachtsmärkte spezialisiert und böten den ganzen Dezember Fahrten zu den schönsten, grössten, zu den hübschesten, nettesten, aber auch zu den ältesten oder schrillsten Weihnachtsmärkten an, in der Schweiz, in Deutschland, in Österreich und in den Regionen Frankreichs. Da er – wie gesagt – Zeit habe, habe er sich für eine Fahrt nach Ravensburg angemeldet und sei ein paar Tage später mit Gubsi-Reisen nach Oberschwaben getuckert.
Was er dann erlebt habe, sei mit Worten nicht zu beschreiben. Er habe ja den Basler Markt gekannt, habe gewusst, was einen auf einem Weihnachtsmarkt erwarte, aber die wunderschöne Innenstadt von Ravensburg, gepaart mit den Ständen und Buden habe ihn fast um den Verstand gebracht; zudem sei das Wetter optimal gewesen, ein stahlblauer Himmel mit einer heftigen Sonne, ein leichter Wind, der von Zeit zu Zeit kleine Schneewehen von den Bäumen gefegt habe. Er sei in einen Rausch, einen Flash, er sei in eine Trance geraten, die man durchaus mit der ersten Zigarette oder dem ersten Bier vergleichen könne, wahrscheinlich sogar mit dem ersten Schuss Heroin, das könne er nicht beurteilen. Er sei eigentlich erst zuhause wieder richtig zu sich gekommen und habe dann festgestellt, dass er doch einiges gekauft habe: 3 Dosen Wurzkraut-Salbe, vier Rauschgoldengel, 2,7 kg Jasmintee, fünf Packungen Elisenlebkuchen, eine goldene Kugel, einen versilberten Baumzweig, sowie etliche Kerzen in den schillerndsten Farben.
Nach einigen Tagen bemerkte er bei sich das heftige Verlangen, diesen Tag zu wiederholen. Er habe, um ein wenig abzukürzen, dann noch bei drei Gubsi-Reisen-Weihnachstmarkt-Fahrten mitgemacht, nach Glarus, nach Stuttgart und nach Bregenz.

Im Frühjahr 2016 habe er sich merkwürdig schlapp gefühlt, eine Art Tonusschwäche, die sich einerseits in Müdigkeit und Appetitlosigkeit, andererseits aber in einem nervösen Zittern und Muskelzucken gezeigt habe, gelegentlich seien Bauch- oder Gliederschmerzen dazugekommen. Seine Hausärztin habe nichts gefunden, die Laborwerte seien OK gewesen und das EKG auch. Den Grund für diese seltsame Erkrankung habe er erst bemerkt, als er am 27. November 2016 mit Gubsi-Reisen nach Nürnberg gefahren sei – übrigens eine Wahnsinnstour, man müsse um 3.00 losfahren. Sobald er die Stände des Marktes gesehen habe, sei alle Schwäche vorbeigewesen, das Zucken habe aufgehört und er habe sich wie mit dreissig gefühlt.
Nun seien alle Dämme gebrochen, noch am nächsten Tag habe er sich für ALLE Touren von Gubsi-Reisen angemeldet und sei jeden Tag irgendwo auf einem Weihnachtsmarkt gewesen, er habe eine Garage anmieten müssen, um die Tonnen von Lametta, Erzgebirgsware und Goldkugeln, um die Zentner von Kräuterpaste, Jasmintee und Krampfaderncréme, um 2576 Lebkuchen und 7354 Makrönchen unterzubringen, den ganzen Dezember sei er high gewesen wie ein Woodstockler oder Hofmann beim ersten Selbstversuch.
Dann aber im Januar sei der totale Absturz gekommen. Die Symptome von 2015 seien wieder da gewesen, hätten sich aber bis März zu heftigsten Schmerzen, Fieberattacken, Schweissausbrüchen, hätten sich zu Schwindelgefühlen, Ohnmachtsanfällen und Ohrentönen gesteigert. Da sei er dann für eine Woche nach Rothenburg ob der Tauber gefahren, wo es einen viergeschossigen 365 Tage-Weihnachtsladen gebe, und nun seien alle Beschwerden wieder vollständig weg gewesen.
Nun habe er aber der unbequemen Tatsache ins Auge sehen müssen:

Er sei weihnachtsmarktsüchtig gewesen.

Er habe dann im Frühsommer eine vierwöchige Entziehungskur gemacht und sei seit Juni geheilt, aber natürlich sei das Rückfallrisiko jetzt in diesen Tagen relativ gross. Daher müsse er alle Prospekte und Werbungen und Bilder und Busunternehmenflyer aus seinem Blickfeld verbannen.
Denn was er durchgemacht habe, wünsche er keinem.

Er gab mir dann noch eine Broschüre mit, die ich nächstes Mal veröffentlichen werde.



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