Ich werde
dieses Jahr an keine Adventsapéros gehen. Das, was mir letzte Adventszeit
passierte, muss mir dieses Mal nicht passieren. Und es geschah auf mehreren
Anlässen.
Da hatte ich
ein schönes Konzert des Kammerchores Debrizwil gehört, einen Strauss bunter
Advents- und Weihnachtsmelodien, der mit fünf Chinesischen Weihnachtsliedern
abschloss. Beim anschliessenden Apéro im Reformierten Pfarreiheim kamen wir in
einer fröhlichen Runde auf die Chinesische Sprache und ich bemerkte nebenbei,
wie praktisch es sei, wenn eine Sprache keine Grammatik kenne, ich sei
Deutschlehrer und wüsste, wovon ich rede. «Das ist zu verkürzt ausgedrückt!»,
erscholl es nun aus einem der Münder und dieser Mund entpuppte sich als der
einer promovierten und habilitierten Sinologin. Sie hob nun zu einem
Rundumschlag an, einem Rundumschlag, der bei den Sprachformen der Ping- und der
Pong-Periode begann, sich dann über die ersten schriftlichen Sprachbücher in
der Yin- und Yang-Periode weiterarbeitete und schliesslich bei der heutigen
Jugendsprache in Beijing endete. Nach dem viertelstündigen Referat war
irgendwie die Luft draussen, es kam kein rechter Talk mehr zustande und man
verabschiedete sich schnell.
Ich
beschloss, beim nächsten Stehempfang einfach den Mund zu halten, aber das
nützte nichts. Eine Woche später war ich zur Vernissage einer Künstlerin
eingeladen, die Weihnachtsschmuck präsentierte. Als wir in netter Runde mit
Cüpliglas und Schinkengipfeli herumstanden, bemerkte mein Freund Reto, dass die
Objekte für ihn mehr kunsthandwerklich seien. «Das ist zu verkürzt
ausgedrückt!», erscholl es nun aus einem der Münder und dieser Mund entpuppte
sich als der eines nicht habilitierten, wohl aber promovierten
Kunsthistorikers. Er begann uns zu erläutern, was die Begriffe «Kunst»,
«Kunsthandwerk» und «Design» wirklich bedeuten, nahm dabei viele Fremdwörter,
viele Beispiele und vor allem viel Frankfurter Schule zur Hilfe, er startete
beim vasentöpfernden Phönizier und endete beim Christbaumschmuck von Mies van
der Rohe (gibt es den wirklich oder hat er den erfunden?). Nach dem
halbstündigen Referat war irgendwie die Luft draussen, es kam kein rechter Talk
mehr zustande und man verabschiedete sich schnell.
Muss ich
wirklich noch erzählen, was beim Apéro der «Freunde des Kleinbasel» passierte?
Muss ich berichten, dass hier irgendein Unbedarfter eine Bemerkung über die
Entstehung des «Minderen Basel» machte, eine Bemerkung, die wie meine
China-Grammatik-Marginalie eigentlich nicht falsch war, sondern etwas «verkürzt»;
muss ich berichten, wie hier eine Historikerin – obwohl sie weder Dr. noch hab.
war – uns in einer bleierne 45 Minuten dauernden Tour d’ Horizon uns die
Planung, Errichtung, die Entwicklung und Tradition der nördlichen Rheinseite
erklärte?
Warum können
wir Aussagen, die eigentlich nicht falsch sind, sondern einfach nicht alle
Aspekte, alle Blickwinkel, die nicht alle Teilgebiete und Perspektiven
berücksichtigen, nicht ganz simpel stehenlassen? Wir haben doch schon genug zu
tun, die WIRKLICH falschen Dinge zu korrigieren. Wenn jemand Antwerpen als
Hauptstadt von Belgien nimmt oder den 30jährigen Krieg ins 15. Jahrhundert
verlegt, wenn jemand Ravel für einen Maler hält oder Warhol für einen Sänger,
dann kann man das kurz richtigstellen. Wenn aber jemand Belgien als
zweisprachig bezeichnet (und die kleine ostbelgische Gemeinschaft, die
deutschsprachig ist, vergisst), kann man das nicht einfach so akzeptieren? Wenn
jemand den Krieg 1618-1648 als Religionskrieg tituliert (es waren auch viele
andere Aspekte dabei), kann man das nicht einfach so hinnehmen?
Jede Aussage
enthält eine Verkürzung. Sonst kämen wir überhaupt nicht zum Gespräch. Selbst
wenn ich nur bemerke, dass ich müde sei, lässt dies die Differenzierung
zwischen innerer und äusserer Müdigkeit weg, verschweigt die Gründe und lässt
auch den Begriff des «Ich» philosophisch unkommentiert, der Dramatiker Heiner
Müller sagte ja einmal:
Wenn ich
sage «ich», fangen die Probleme schon an.
Jede Aussage
ist verkürzt.
Wir können nicht ständig vom 100sten ins 1000ste kommen, wir können nicht immer bei Adam und Eva anfangen und von Pontius zu Pilatus reden, wir können nicht stets bei den Dinosauriern beginnen und müssen manchmal eben alles ein wenig lockerer nehmen, fünfe Grad sein lassen, das Ganze entspannt sehen.
Aber da das wahrscheinlich zu viel verlangt ist, habe ich beschlossen, dieses Jahr an keine Adventsapéros mehr zu gehen.
Als ich dies einem Kumpel mitteile, grinst er von einem Ohr zum anderen: "Dann nervst du 2017 auch die Leute nicht." Und als ich frage, wieso er darauf komme, erzählt er, ich hätte letztes Jahr, als jemand beim Apéro nach einem Weihnachtsoratorium gesagt habe, der Eingangschor sei eigentlich ein weltliches Stück, zunächst "das ist ja sehr verkürzt" gerufen und dann in einem einstündigen Vortrag die gesamte Parodietechnik von den Frankoflamen bis zur Barockzeit dargelegt.
Wer im Glahaus sitzt...
Aber da das wahrscheinlich zu viel verlangt ist, habe ich beschlossen, dieses Jahr an keine Adventsapéros mehr zu gehen.
Als ich dies einem Kumpel mitteile, grinst er von einem Ohr zum anderen: "Dann nervst du 2017 auch die Leute nicht." Und als ich frage, wieso er darauf komme, erzählt er, ich hätte letztes Jahr, als jemand beim Apéro nach einem Weihnachtsoratorium gesagt habe, der Eingangschor sei eigentlich ein weltliches Stück, zunächst "das ist ja sehr verkürzt" gerufen und dann in einem einstündigen Vortrag die gesamte Parodietechnik von den Frankoflamen bis zur Barockzeit dargelegt.
Wer im Glahaus sitzt...
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