Freitag, 15. Dezember 2017

Der Apéro oder: Vom 100sten ins 1000ste



Ich werde dieses Jahr an keine Adventsapéros gehen. Das, was mir letzte Adventszeit passierte, muss mir dieses Mal nicht passieren. Und es geschah auf mehreren Anlässen.
Da hatte ich ein schönes Konzert des Kammerchores Debrizwil gehört, einen Strauss bunter Advents- und Weihnachtsmelodien, der mit fünf Chinesischen Weihnachtsliedern abschloss. Beim anschliessenden Apéro im Reformierten Pfarreiheim kamen wir in einer fröhlichen Runde auf die Chinesische Sprache und ich bemerkte nebenbei, wie praktisch es sei, wenn eine Sprache keine Grammatik kenne, ich sei Deutschlehrer und wüsste, wovon ich rede. «Das ist zu verkürzt ausgedrückt!», erscholl es nun aus einem der Münder und dieser Mund entpuppte sich als der einer promovierten und habilitierten Sinologin. Sie hob nun zu einem Rundumschlag an, einem Rundumschlag, der bei den Sprachformen der Ping- und der Pong-Periode begann, sich dann über die ersten schriftlichen Sprachbücher in der Yin- und Yang-Periode weiterarbeitete und schliesslich bei der heutigen Jugendsprache in Beijing endete. Nach dem viertelstündigen Referat war irgendwie die Luft draussen, es kam kein rechter Talk mehr zustande und man verabschiedete sich schnell.

Ich beschloss, beim nächsten Stehempfang einfach den Mund zu halten, aber das nützte nichts. Eine Woche später war ich zur Vernissage einer Künstlerin eingeladen, die Weihnachtsschmuck präsentierte. Als wir in netter Runde mit Cüpliglas und Schinkengipfeli herumstanden, bemerkte mein Freund Reto, dass die Objekte für ihn mehr kunsthandwerklich seien. «Das ist zu verkürzt ausgedrückt!», erscholl es nun aus einem der Münder und dieser Mund entpuppte sich als der eines nicht habilitierten, wohl aber promovierten Kunsthistorikers. Er begann uns zu erläutern, was die Begriffe «Kunst», «Kunsthandwerk» und «Design» wirklich bedeuten, nahm dabei viele Fremdwörter, viele Beispiele und vor allem viel Frankfurter Schule zur Hilfe, er startete beim vasentöpfernden Phönizier und endete beim Christbaumschmuck von Mies van der Rohe (gibt es den wirklich oder hat er den erfunden?). Nach dem halbstündigen Referat war irgendwie die Luft draussen, es kam kein rechter Talk mehr zustande und man verabschiedete sich schnell.

Muss ich wirklich noch erzählen, was beim Apéro der «Freunde des Kleinbasel» passierte? Muss ich berichten, dass hier irgendein Unbedarfter eine Bemerkung über die Entstehung des «Minderen Basel» machte, eine Bemerkung, die wie meine China-Grammatik-Marginalie eigentlich nicht falsch war, sondern etwas «verkürzt»; muss ich berichten, wie hier eine Historikerin – obwohl sie weder Dr. noch hab. war – uns in einer bleierne 45 Minuten dauernden Tour d’ Horizon uns die Planung, Errichtung, die Entwicklung und Tradition der nördlichen Rheinseite erklärte?

Warum können wir Aussagen, die eigentlich nicht falsch sind, sondern einfach nicht alle Aspekte, alle Blickwinkel, die nicht alle Teilgebiete und Perspektiven berücksichtigen, nicht ganz simpel stehenlassen? Wir haben doch schon genug zu tun, die WIRKLICH falschen Dinge zu korrigieren. Wenn jemand Antwerpen als Hauptstadt von Belgien nimmt oder den 30jährigen Krieg ins 15. Jahrhundert verlegt, wenn jemand Ravel für einen Maler hält oder Warhol für einen Sänger, dann kann man das kurz richtigstellen. Wenn aber jemand Belgien als zweisprachig bezeichnet (und die kleine ostbelgische Gemeinschaft, die deutschsprachig ist, vergisst), kann man das nicht einfach so akzeptieren? Wenn jemand den Krieg 1618-1648 als Religionskrieg tituliert (es waren auch viele andere Aspekte dabei), kann man das nicht einfach so hinnehmen?

Jede Aussage enthält eine Verkürzung. Sonst kämen wir überhaupt nicht zum Gespräch. Selbst wenn ich nur bemerke, dass ich müde sei, lässt dies die Differenzierung zwischen innerer und äusserer Müdigkeit weg, verschweigt die Gründe und lässt auch den Begriff des «Ich» philosophisch unkommentiert, der Dramatiker Heiner Müller sagte ja einmal:
Wenn ich sage «ich», fangen die Probleme schon an.
Jede Aussage ist verkürzt.
Wir können nicht ständig vom 100sten ins 1000ste kommen, wir können nicht immer bei Adam und Eva anfangen und von Pontius zu Pilatus reden, wir können nicht stets bei den Dinosauriern beginnen und müssen manchmal eben alles ein wenig lockerer nehmen, fünfe Grad sein lassen, das Ganze entspannt sehen.

Aber da das wahrscheinlich zu viel verlangt ist, habe ich beschlossen, dieses Jahr an keine Adventsapéros mehr zu gehen.
Als ich dies einem Kumpel mitteile, grinst er von einem Ohr zum anderen: "Dann nervst du 2017 auch die Leute nicht." Und als ich frage, wieso er darauf komme, erzählt er, ich hätte letztes Jahr, als jemand beim Apéro nach einem Weihnachtsoratorium gesagt habe, der Eingangschor sei eigentlich ein weltliches Stück, zunächst "das ist ja sehr verkürzt" gerufen und dann in einem einstündigen Vortrag die gesamte Parodietechnik von den Frankoflamen bis zur Barockzeit dargelegt.

Wer im Glahaus sitzt...








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