Dienstag, 12. Dezember 2017

Rituale



Neulich hatte es am Bahnhof SBB morgens um 6.00 zwei- oder dreimal keine 20min im dafür bereitgestellten Kasten. So etwas ist für mich eine totale Katastrophe, eine Katastrophe, die den ganzen kommenden Tag in ein schlechtes Licht rückt, die ihn von Anfang beschädigt, korrumpiert, eine prekäre Lage, die mich eigentlich dazu bewegen würde, mich auf dem Absatz umzudrehen und wieder ins Bett zu steigen, ein Desaster, das die kommenden Stunden auch mit fröhlichstem Sonnenschein, motiviertesten Schülern und aromatischstem Kaffee nicht wettmachen können. Wenn ich bei Abfahrt des 6.03 nach Moutier mein Kreuzworträtsel nicht lösen kann, ist der Tag dahin, gelaufen, vorbei, wenn ich nicht ein paar Minuten senkrecht und waagrecht denken kann, muss ich eigentlich gar nicht weiterdenken.
Nun ist das Kreuzworträtsel im 20min weder besonders originell noch besonders intellektuell, es ist kein ZEIT-Rätsel und kein NZZ-Rätsel, es ist ein normales Ding, das nach dem normalen Schema abläuft, bei dem Sie bestimmte Sachen allgemeinbildungsmässig wissen (Hauptstadt von Italien = ROM), bestimmte Sachen als Kreuzworträtsellöser wissen (Tropisches Nagetier  = AGUTI), bei dem Sie andere Dinge sich zusammenreimen (erste Miss Thurgau = HU?ER, kann nur HUBER sein) und andere einfach raten (Isländischer Volkstanz = ?YR, also TYR, könnte aber auch NYR, FYR oder MYR heissen). Warum brauche ich also dieses Rätsel so weltsdringend?
Ganz einfach.
Es gehört zum Ablauf meiner Morgenrituale, meiner Rituale, die sich vom Kaffee 1 auf meinem Balkon über das Zusammenpacken und Hausverlassen bis zum Kaffee 2 bei SUPER GUUD ® (günstigster Doppelespresso am Bahnhof, und sehr gut) und eben dem 20min-Rätsel erstrecken.

Und mal ganz ehrlich: Ich könnte auch verrücktere Morgenrituale aufgebaut haben. Heinrich Böll erzählt in seiner unvergleichlichen Radio-Redaktions-Geschichten-Glosse Doktor Murkes gesammeltes Schweigen vom täglichen Morgentun eben dieses Dr. Murke, der jeden Tag sein «Angstfrühstück» braucht, er fährt nämlich jeden Morgen mit dem Paternoster über das höchste Stockwerk hinaus und via Dachboden zu seiner Etage. Diese paar Sekunden der Angst im dunklen, spinnbewebten und hässlichen Dachboden, das kleine Grummeln im Bauch ob der Befürchtung, der Aufzug könnte eben hier steckenbleiben, braucht Murke wie andere Menschen Kaffee oder Zigarette (oder eben Kreuzworträtsel), ist der Paternoster in Wartung, ist der Redakteur den ganzen Morgen schlecht gelaunt.

Ich könnte also auch viel blödere Rituale haben. Den frühmorgendlichen Entsetzensschrei à la Arthur Dent zum Beispiel, würde – so glaube ich zu glauben – meine Nachbarn doch ein wenig stören. Oder 30 Minuten Mantrasingen, sehr anregend für den Tag, aber auch sehr zeitraubend. Ich könnte mir als Morgenritual angewöhnt haben im Tram zu furzen oder jedes Mal dem Kondukteur das falsche Kärtchen hinzustrecken, also mein Schwimmbad-Abo statt dem Swiss Pass, um dann jeden Morgen zu kichern: «Was bin ich doch für ein Schussel, ich kann die nie auseinanderhalten…»
Nein, da ist mein Morgenkreuzworträtselritual doch eine gute Sache.

Wir alle brauchen Rituale. Das zeigt sogar der Volksmund, wenn er davon redet, dass ein Mensch ganz rituell mit einem bestimmten Fuss zuerst vom Bett auf den Boden kommt, und wenn er einmal den anderen benützt, dann ist er «mit dem falschen Fuss aufgestanden».
Wir alle brauchen Rituale.
Und deshalb ist die Adventszeit eine so wunderbare Zeit.

Kommen Sie bitte jetzt nicht mit «nutzlos», «sinnentleert» oder «überholt», wenn Sie mir jetzt damit kommen, haben Sie nichts gecheckt, nichts begriffen, dann haben Sie keinen Deut kapiert und kein My verstanden; dann lesen Sie bitte noch einmal von vorne und machen dann erst hier weiter.
Denn der Nutzen eines Rituals liegt in seiner Nutzlosigkeit, der Sinn eines Rituals ist nur, ein Ritual zu sein. Und überholt kann es auch nicht sein, wenn es nicht eine Zeit lang besteht, wird es nicht rituell. Nein, das Schöne an den Adventsritualen ist, dass es Rituale sind.
Das Anzünden der ersten Kerze am Adventskranz.
Das Warten auf den Nikolaus.
Das Anzünden der zweiten Kerze am Adventskranz.
Die Barbarazweige.
Das Anzünden der dritten Kerze am Adventskranz.
Das Backen, Verpacken, Kärtlischreiben und Pakete aufgeben.
Das Anzünden der vierten Kerze am Adventskranz.

Ich hatte mit meiner Mutter ein ganz eigenes Ritual am Samstag vor dem zweiten Advent: Wir fuhren von Stuttgart mit der S-Bahn nach Ludwigsburg und kauften in einem bestimmten Laden Weihnachtspapier, -schmuck, -karten und -dekoration ein, dann gingen wir in den WIENERWALD® essen, danach auf den Ludwigsburger Weihnachtsmarkt, der damals noch vor allem den gemeinnützigen Gruppen vorbehalten war. Dort beschlossen wir den Tag bei Kaffee und Kuchen am Stand der Tierschützer.
Selbstverständlich hätte es einen solchen Shop auch in Stuttgart gegeben, selbstverständlich war der WIENERWALD® eine Unmöglichkeit, selbstverständlich hatten auch AKTION SORGENKIND und der Förderverein Schloss Ludwigsburg guten Kaffee.
Aber es war unser Ritual.

In diesem Sinne einen schönen

_ _ _ _ _ _ (Zeit vor Weihnachten)














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