Neulich
hatte es am Bahnhof SBB morgens um 6.00 zwei- oder dreimal keine 20min im dafür
bereitgestellten Kasten. So etwas ist für mich eine totale Katastrophe, eine
Katastrophe, die den ganzen kommenden Tag in ein schlechtes Licht rückt, die
ihn von Anfang beschädigt, korrumpiert, eine prekäre Lage, die mich eigentlich
dazu bewegen würde, mich auf dem Absatz umzudrehen und wieder ins Bett zu
steigen, ein Desaster, das die kommenden Stunden auch mit fröhlichstem
Sonnenschein, motiviertesten Schülern und aromatischstem Kaffee nicht
wettmachen können. Wenn ich bei Abfahrt des 6.03 nach Moutier mein
Kreuzworträtsel nicht lösen kann, ist der Tag dahin, gelaufen, vorbei, wenn ich
nicht ein paar Minuten senkrecht und waagrecht denken kann, muss ich eigentlich
gar nicht weiterdenken.
Nun ist das
Kreuzworträtsel im 20min weder besonders originell noch besonders
intellektuell, es ist kein ZEIT-Rätsel und kein NZZ-Rätsel, es ist ein normales
Ding, das nach dem normalen Schema abläuft, bei dem Sie bestimmte Sachen allgemeinbildungsmässig
wissen (Hauptstadt von Italien = ROM), bestimmte Sachen als
Kreuzworträtsellöser wissen (Tropisches Nagetier = AGUTI), bei dem Sie andere Dinge sich
zusammenreimen (erste Miss Thurgau = HU?ER, kann nur HUBER sein) und andere
einfach raten (Isländischer Volkstanz = ?YR, also TYR, könnte aber auch NYR,
FYR oder MYR heissen). Warum brauche ich also dieses Rätsel so weltsdringend?
Ganz
einfach.
Es gehört
zum Ablauf meiner Morgenrituale, meiner Rituale, die sich vom Kaffee 1 auf
meinem Balkon über das Zusammenpacken und Hausverlassen bis zum Kaffee 2 bei
SUPER GUUD ® (günstigster Doppelespresso am Bahnhof, und sehr gut) und eben dem
20min-Rätsel erstrecken.
Und mal ganz
ehrlich: Ich könnte auch verrücktere Morgenrituale aufgebaut haben. Heinrich
Böll erzählt in seiner unvergleichlichen Radio-Redaktions-Geschichten-Glosse Doktor Murkes gesammeltes Schweigen vom
täglichen Morgentun eben dieses Dr. Murke, der jeden Tag sein «Angstfrühstück»
braucht, er fährt nämlich jeden Morgen mit dem Paternoster über das höchste
Stockwerk hinaus und via Dachboden zu seiner Etage. Diese paar Sekunden der
Angst im dunklen, spinnbewebten und hässlichen Dachboden, das kleine Grummeln
im Bauch ob der Befürchtung, der Aufzug könnte eben hier steckenbleiben, braucht
Murke wie andere Menschen Kaffee oder Zigarette (oder eben Kreuzworträtsel),
ist der Paternoster in Wartung, ist der Redakteur den ganzen Morgen schlecht
gelaunt.
Ich könnte
also auch viel blödere Rituale haben. Den frühmorgendlichen Entsetzensschrei à
la Arthur Dent zum Beispiel, würde – so glaube ich zu glauben – meine Nachbarn
doch ein wenig stören. Oder 30 Minuten Mantrasingen, sehr anregend für den Tag,
aber auch sehr zeitraubend. Ich könnte mir als Morgenritual angewöhnt haben im
Tram zu furzen oder jedes Mal dem Kondukteur das falsche Kärtchen
hinzustrecken, also mein Schwimmbad-Abo statt dem Swiss Pass, um dann jeden
Morgen zu kichern: «Was bin ich doch für ein Schussel, ich kann die nie
auseinanderhalten…»
Nein, da ist
mein Morgenkreuzworträtselritual doch eine gute Sache.
Wir alle
brauchen Rituale. Das zeigt sogar der Volksmund, wenn er davon redet, dass ein
Mensch ganz rituell mit einem bestimmten Fuss zuerst vom Bett auf den Boden
kommt, und wenn er einmal den anderen benützt, dann ist er «mit dem falschen
Fuss aufgestanden».
Wir alle
brauchen Rituale.
Und deshalb
ist die Adventszeit eine so wunderbare Zeit.
Kommen Sie
bitte jetzt nicht mit «nutzlos», «sinnentleert» oder «überholt», wenn Sie mir
jetzt damit kommen, haben Sie nichts gecheckt, nichts begriffen, dann haben Sie
keinen Deut kapiert und kein My verstanden; dann lesen Sie bitte noch einmal
von vorne und machen dann erst hier weiter.
Denn der
Nutzen eines Rituals liegt in seiner Nutzlosigkeit, der Sinn eines Rituals ist
nur, ein Ritual zu sein. Und überholt kann es auch nicht sein, wenn es
nicht eine Zeit lang besteht, wird es nicht rituell. Nein, das Schöne an den
Adventsritualen ist, dass es Rituale sind.
Das Anzünden
der ersten Kerze am Adventskranz.
Das Warten
auf den Nikolaus.
Das Anzünden
der zweiten Kerze am Adventskranz.
Die
Barbarazweige.
Das Anzünden
der dritten Kerze am Adventskranz.
Das Backen,
Verpacken, Kärtlischreiben und Pakete aufgeben.
Das Anzünden
der vierten Kerze am Adventskranz.
Ich hatte
mit meiner Mutter ein ganz eigenes Ritual am Samstag vor dem zweiten Advent:
Wir fuhren von Stuttgart mit der S-Bahn nach Ludwigsburg und kauften in einem
bestimmten Laden Weihnachtspapier, -schmuck, -karten und -dekoration ein, dann
gingen wir in den WIENERWALD® essen, danach auf den Ludwigsburger
Weihnachtsmarkt, der damals noch vor allem den gemeinnützigen Gruppen
vorbehalten war. Dort beschlossen wir den Tag bei Kaffee und Kuchen am Stand
der Tierschützer.
Selbstverständlich
hätte es einen solchen Shop auch in Stuttgart gegeben, selbstverständlich war
der WIENERWALD® eine Unmöglichkeit, selbstverständlich hatten auch AKTION
SORGENKIND und der Förderverein Schloss Ludwigsburg guten Kaffee.
Aber es war
unser Ritual.
In diesem
Sinne einen schönen
_ _ _ _ _ _ (Zeit vor Weihnachten)
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