Freitag, 4. August 2017

England 3: Kein Mensch kann die Englischen Könige lernen



Eines der entzückenden Städtchen, die ich letztes Jahr verpasst habe, ist Newark-on-Trent. Malerisch am gleichen Fluss wie Nottingham gelegen und nur 25 Zugminuten davon entfernt, bietet es eine uralte Burg, malerische Gassen und Häuser, einen pittoresken Marktplatz und – wenn man ein wenig Pounds für ein Taxi spendiert, einen Ausflug zu dem riesigen Herrensitz Kelmal Hall. Hat man Glück, dann ist auf dem Markplatz Markt, im ganzen Städtchen ein Folklorefest oder auf Kelmal Hall eine Gigantohochzeit der Indischen Oberschicht, hat man so viel Glück wie ich, dann ist alles gleichzeitig, man schlendert also von Markstand zu Marktstand, schaut sich zwischendurch einen Dance mit Stäben oder Schellen an und darf schliesslich auf dem Herrensitz ca. 100 herrliche Saris bewundern (allerdings scheint es der indischen Oberschicht sehr gut zu gehen, einige Damen müssten mal vom S- oder M-Sari zu XL oder XXL wechseln…)
Newark-on-Trent ist übrigens die Heimat jener, die das Städtchen mit genau dem identischen Namen im Garden State New Jersey gegründet haben (New Newark klang so blöd…), jenes Städtchen das den Inlandsflughafen beheimatet.

Man beginnt den Rundgang durch Newark am Fluss Trent und damit am Castel, und hier beginnt auch unsere Geschichte. Das Castel, eigentlich nur noch eine guterhaltene Ruine, beherbergt jenen Turm, in dem King John 1216 sein Leben aushauchte. Fragen Sie mich nun bitte nicht, was John sein Leben lang gemacht hat, ich habe es schon wieder vergessen, wie ich auch vergessen habe, was Richard III gemacht hat, an dessen letzter Ruhestädte ich letztes Jahr stand. Während ich also nun in der Turmstube weilte und mit Interesse las, dass John ein Plantaget gewesen sei, strömten auf einmal wieder alle die Houses, die Geschlechter, die Adelsfamilien aus den Tiefen meines Gehirns und wollten sortiert werden: Kamen nach den Plantagets die Yorks oder die Lancasters? Hatten das House of Lancaster und das House of Stuart Krach oder war der Zoff zwischen Stuarts und Tudors? Wie war die Reihenfolge jener Herrscher, wer hat wen abgemurkst, wer wen beerbt und wer wen abgemurkst UND beerbt (übrigens der Normalfall). Obwohl ich viel gelesen habe und inzwischen ALLE Königsdramen des grossen Meisters aus Stratford gesehen, ich kriege dieses Zeug nicht langfristig in meinen Kopf.

Beim Ausgang fragte ich nun, um mich ein wenig zu beruhigen, die Lady an der Kasse: «Excuse me, Madam, I have one question, does a normal English person know all these kings and queens and houses? Does he or she know the order of all that Yorks, Lancasters, Stuarts and Tudors?» Die Antwort war in der Tat beruhigend:
«No.»
Keine Engländerin und kein Engländer könne sich das merken, so die nette Frau im King John-Turm, man habe einfach keine Chance alle diese Morde, Kriege, alle diese Nebenfrauen und Nebenkinder, alle diese Zoffereien, alle diese Dinge nur annähernd zu behalten. Ich solle mir also keine Gedanken machen, der normale Mensch von der Insel wisse genau so viel wie ich, vielleicht sogar weniger. Im Geschichtsunterricht gehe man, so die Lady, einfach punktuell vor:
Die Römer.
Dann die Stuarts und die Tudors.
Dann der 1. Weltkrieg.
Eventuell, wenn man viel Zeit habe, nehme man noch ein wenig Industrialisierung und Kolonialgeschichte dazu, das aber sei Geschmacksache.

Ich finde den englischen Geschichtsunterricht vorbildhaft. Wozu sich mit den ganzen Kämpfen zwischen York und Lancaster plagen, wenn man sie eh nicht behält? Wozu irgendetwas durchnehmen, was eh keiner versteht? Römer, Tudors, und dann ab ins 20. Jahrhundert, so geht’s. Man könnte das auch wunderbar auf andere Fächer ausdehnen. Wenn Sie z.B. schon mit 15 wissen, dass Sie eine Geisteswissenschaft studieren wollen, können Sie Mathe mit dem Dreisatz beenden, Ehrenwort, mehr brauchen Sie nicht, die Winkelfunktionen versteht eh kein Mensch.

Das Gespräch mit der Dame ging übrigens noch weiter. Ich erzählte, dass ich in einem Land wohne, das nie einen König hatte, und dass sich in der ganzen Schweiz nur ca. 10 Orte von Schlachten, also sogenannte Schlachtfelder befinden; sie schlug die Hände über dem Kopf zusammen, soviel hätten sie allein im County (also in Derbyshire, wo Newark liegt).
Und dies brachte mich später, leider später, sehr viel später, als ich schon auf dem Markt gewesen war, die Tänze mit Stab, Schellen, Bändern und Hüten gesehen hatte und im Taxi nach Kelmal Hall zu den Saris sass, auf einen Gedanken:
Bei so komplexen Historien wie der Britischen müsste man mit Negativmasken arbeiten.
So könnte man z.B. auf einer Karte die Plätze markieren, wo die Yorks und Lancasters, die Tudors und Stuarts sich NICHT bekämpften; eine Karte «Places without Battles in England, Wales and Scotland» wäre viel übersichtlicher.
Man könnte auch eine Liste der Könige machen, die NICHT auf eine krumme Tour um die Ecke gebracht wurden, die also auf dem Schlachtfeld starben (da war Richard III der letzte) oder im Bett den Odem aushauchten. Auch eine Liste «Kings and Queens not Murdered» wäre klar, kurz und übersichtlich.

Froh und zufrieden trat ich dann meine Heimfahrt nach Nottingham an um dann im Hotel noch einmal eine Liste aller Königinnen und Könige durchzugehen, frohgemut, weil ich nun wusste, wenn ich wieder alles vergesse, bin ich auf dem Stand eines normalen Briten.

 

 

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