Montag, 27. März 2017

Fast vom Rollstuhl überfahren



Diese Geschichte ist jetzt wirklich wahr: Ich war am letzten Februarwochenende in Neuchâtel und Yverdon. Als ich am Samstag, vom Centre Dürrenmatt kommend und zum Hallenbad Nid-du-Cros strebend auf den Bus wartete, trat ich unachtsam einen Schritt von der Strassenkante zurück Richtung Häuser. Zum Glück war ich geistesgegenwärtig genug, entgegengesetzt mit einem Satz wieder Richtung Strasse einem ultraschnellen Geschoss auszuweichen. Was glauben Sie wohl, was das war? Sicher tippen Sie auf Velo, auf Skateboard oder Inliner, aber es war…
Ein Rollstuhl.
Mit ca. 15 km/h bretterte der junge Mann das abschüssige Trottoir hinab, schnell wie ein Pfeil und rasend wie der Roland, unaufhaltsam, unbremsbar und nicht zu stoppen. Dies schien ihm einen grossen Spass zu machen, denn er stiess, als er schon weiter von mir weg war, einen lauten Jauchzer aus.
Nicht vorzustellen, wenn wir kollidiert wären; er wäre wahrscheinlich gekippt, aber auch ich hätte einige Probleme gehabt. Die Skala reicht von Prellungen und Schürfungen über Knochenbrüche bis zur Gehirnerschütterung. Hätte ich sterben können? Wenn ich auf einen harten und spitzen Gegenstand geknallt wäre, ja. Dies hätte dann die merkwürdigen Tode von Horvath (vom Ast erschlagen), Lully (Dirigierstab in den Zeh/Blutvergiftung) und vieler anderer berühmter Leute fast noch getoppt:
Am 25.2.2017 wurde Rolf Herter während eines Wochenendausflugs an den Neuenburgersee an der  Haltestelle Terreaux Museum in Neuchâtel um 13.30 von einem Rollstuhlfahrer überfahren und erlag wenig später im Kantonsspital Neuenburg seinen Verletzungen. 
Zum Glück hatte ich noch ausweichen können.

Während ich mich langsam beruhigte, begann ich, über die Sache nachzudenken. Und während des Nachdenkens kam mir ein relativ ketzerischer Gedanke, den ich aber hier doch aufschreiben muss:
Haben wir die Behinderten zu sehr gefördert, ihnen zu sehr geholfen?
Vor 50 Jahren hatte ein Mensch im Rollstuhl wenig Anteil am gesellschaftlichen Leben, er oder sie sass zu Hause vor dem Fernseher oder dem Radio, und wenn keiner oder keine sie mal rausschob und half, dann war nix mit frischer Luft, nix mit Konzert oder Kino, nix mit Party. Heutzutage ist alles barrierefrei, die Rollifahrer können Mahler VIII geniessen oder den neuen King Kong-Film, sie treiben sich in Diskos herum und haben sogar eigene Sportvereine, und zum Dank flitzen sie auf dem Trottoir und gefährden unbescholtene Leute wie mich.

Oder nehmen sie mal die Taubstummen. Jede DVD hat inzwischen eine Fassung für Hörgeschädigte, wo nicht nur die Sprache, sondern auch alle Geräusche angezeigt werden. («Telefon klingelt», «Knall», «Motorenbrummen» usw.) Als Dank hocken sie in den Zügen und machen Lärm. Das klingt jetzt paradox, ist aber so. Da die Gebärdensprache nur zusammen mit Lippenlesen funktioniert, formen die Taubstummen die Wörter mit ihrem Mund, und da kommen Laute raus. Und zwar laute Laute! Und weil sie nix hören, merken die gar nicht wie laut die sind.

Haben wir die Beeinträchtigten nicht zu sehr in die Mitte der Gesellschaft geholt?

Die Gemeinde Allschwil (BL) hat mit dem Bau des neuen Schulhauses ein Zeichen für ein Umdenken gesetzt. Ich konnte beim Jahreskonzert meines Musikvereins, das in der neuen Aula stattfand, das selbst in Augenschein nehmen. Das ganze Ding ist barriereunfrei, ein Rollstuhl hat keine Chance. Natürlich gibt es einen Lift, aber nach dem muss man selber erst betteln. Auch für Senioren, die einen Stock brauchen, ist es nicht so einfach. Viele Stufen bis ins Foyer, das die gefühlte Grösse von drei Fussballfeldern hat, dafür sind die Toiletten im Untergeschoss. Auch hier gibt es einen Lift, den man zwar – im Gegensatz zu dem oben genannten, der nur mit Schlüssel funktioniert – einfach so benutzen kann, aber er fährt mit einer Geschwindigkeit von 30 cm pro Minute. Ältere Konzertbesucher müssen sich also in der Pause entscheiden, ob sie an die Bar gehen, zehn Tombolalose kaufen, ob sie eine Zigarette rauchen ODER aufs Klo gehen wollen, alles geht nicht.
Dass so ein Bauwerk in der heutigen Zeit eine Genehmigung bekommt, kann kein Versehen sein. Hier wird klar mitgeteilt: Behinderte, bleibt zu Hause. Rollstuhlfahrer unwillkommen. Wir haben Angst vor euch.

Als ich an jenem Wochenende wieder in Basel ankam, fuhr schon wieder ein Rollstuhl auf mich zukam, ging ich sofort unter einen Tisch des Bahnhofcafés in Deckung. «Haben Sie Angst?», fragte mich fröhlich die junge Fahrerin. Ich erzählte ihr die Neuenburger Geschichte. «Oh», meinte sie, «das ist stark. Also auf Fussgänger nehme ich normalerweise Rücksicht. Aber neulich bin ich mit 80 km/h mit einem anderen Rollstuhl zusammengerast. Das hat gerumst! Aber der andere war schuld.» 

Quod erat demonstrandum.


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