Diese
Geschichte ist jetzt wirklich wahr: Ich war am letzten Februarwochenende in
Neuchâtel und Yverdon. Als ich am Samstag, vom Centre Dürrenmatt kommend und
zum Hallenbad Nid-du-Cros strebend auf den Bus wartete, trat ich unachtsam
einen Schritt von der Strassenkante zurück Richtung Häuser. Zum Glück war ich
geistesgegenwärtig genug, entgegengesetzt mit einem Satz wieder Richtung
Strasse einem ultraschnellen Geschoss auszuweichen. Was glauben Sie wohl, was
das war? Sicher tippen Sie auf Velo, auf Skateboard oder Inliner, aber es war…
Ein
Rollstuhl.
Mit ca. 15
km/h bretterte der junge Mann das abschüssige Trottoir hinab, schnell wie ein
Pfeil und rasend wie der Roland, unaufhaltsam, unbremsbar und nicht zu stoppen.
Dies schien ihm einen grossen Spass zu machen, denn er stiess, als er schon
weiter von mir weg war, einen lauten Jauchzer aus.
Nicht
vorzustellen, wenn wir kollidiert wären; er wäre wahrscheinlich gekippt, aber
auch ich hätte einige Probleme gehabt. Die Skala reicht von Prellungen und
Schürfungen über Knochenbrüche bis zur Gehirnerschütterung. Hätte ich sterben
können? Wenn ich auf einen harten und spitzen Gegenstand geknallt wäre, ja.
Dies hätte dann die merkwürdigen Tode von Horvath (vom Ast erschlagen), Lully
(Dirigierstab in den Zeh/Blutvergiftung) und vieler anderer berühmter Leute fast
noch getoppt:
Am 25.2.2017 wurde Rolf Herter während eines
Wochenendausflugs an den Neuenburgersee an der
Haltestelle Terreaux Museum in Neuchâtel um 13.30 von einem
Rollstuhlfahrer überfahren und erlag wenig später im Kantonsspital Neuenburg
seinen Verletzungen.
Zum Glück
hatte ich noch ausweichen können.
Während ich
mich langsam beruhigte, begann ich, über die Sache nachzudenken. Und während
des Nachdenkens kam mir ein relativ ketzerischer Gedanke, den ich aber hier
doch aufschreiben muss:
Haben wir
die Behinderten zu sehr gefördert, ihnen zu sehr geholfen?
Vor 50
Jahren hatte ein Mensch im Rollstuhl wenig Anteil am gesellschaftlichen Leben,
er oder sie sass zu Hause vor dem Fernseher oder dem Radio, und wenn keiner
oder keine sie mal rausschob und half, dann war nix mit frischer Luft, nix mit
Konzert oder Kino, nix mit Party. Heutzutage ist alles barrierefrei, die
Rollifahrer können Mahler VIII geniessen oder den neuen King Kong-Film, sie
treiben sich in Diskos herum und haben sogar eigene Sportvereine, und zum Dank flitzen
sie auf dem Trottoir und gefährden
unbescholtene Leute wie mich.
Oder nehmen
sie mal die Taubstummen. Jede DVD hat inzwischen eine Fassung für
Hörgeschädigte, wo nicht nur die Sprache, sondern auch alle Geräusche angezeigt
werden. («Telefon klingelt», «Knall», «Motorenbrummen» usw.) Als Dank hocken
sie in den Zügen und machen Lärm. Das klingt jetzt paradox, ist aber so. Da die
Gebärdensprache nur zusammen mit Lippenlesen funktioniert, formen die
Taubstummen die Wörter mit ihrem Mund, und da kommen Laute raus. Und zwar laute
Laute! Und weil sie nix hören, merken die gar nicht wie laut die sind.
Haben wir
die Beeinträchtigten nicht zu sehr in die Mitte der Gesellschaft geholt?
Die Gemeinde
Allschwil (BL) hat mit dem Bau des neuen Schulhauses ein Zeichen für ein
Umdenken gesetzt. Ich konnte beim Jahreskonzert meines Musikvereins, das in der
neuen Aula stattfand, das selbst in Augenschein nehmen. Das ganze Ding ist
barriereunfrei, ein Rollstuhl hat keine Chance. Natürlich gibt es einen Lift,
aber nach dem muss man selber erst betteln. Auch für Senioren, die einen Stock
brauchen, ist es nicht so einfach. Viele Stufen bis ins Foyer, das die gefühlte
Grösse von drei Fussballfeldern hat, dafür sind die Toiletten im Untergeschoss.
Auch hier gibt es einen Lift, den man zwar – im Gegensatz zu dem oben
genannten, der nur mit Schlüssel funktioniert – einfach so benutzen kann, aber
er fährt mit einer Geschwindigkeit von 30 cm pro Minute. Ältere Konzertbesucher
müssen sich also in der Pause entscheiden, ob sie an die Bar gehen, zehn
Tombolalose kaufen, ob sie eine Zigarette rauchen ODER aufs Klo gehen wollen,
alles geht nicht.
Dass so ein
Bauwerk in der heutigen Zeit eine Genehmigung bekommt, kann kein Versehen sein.
Hier wird klar mitgeteilt: Behinderte, bleibt zu Hause. Rollstuhlfahrer
unwillkommen. Wir haben Angst vor euch.
Als ich an
jenem Wochenende wieder in Basel ankam, fuhr schon wieder ein Rollstuhl auf
mich zukam, ging ich sofort unter einen Tisch des Bahnhofcafés in Deckung.
«Haben Sie Angst?», fragte mich fröhlich die junge Fahrerin. Ich erzählte ihr
die Neuenburger Geschichte. «Oh», meinte sie, «das ist stark. Also auf Fussgänger
nehme ich normalerweise Rücksicht. Aber neulich bin ich mit 80 km/h mit einem
anderen Rollstuhl zusammengerast. Das hat gerumst! Aber der andere war
schuld.»
Quod erat
demonstrandum.
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