Dienstag, 28. Februar 2017

Wir messen in 1/100-Sekunden und werden immer unpünktlicher



Wenn so ein alter Knacker wie ich sich die Ergebnisse beim Skifahren anschaut, dann gerät er ins Grübeln. Die gleichen Rennen, in meiner Jugendzeit geguckt, hätten nämlich das folgende Resultat gebracht: Alle Athletinnen und Athleten sind gleich schnell. Nur durch die Messung in Hundertstelsekunden kann heutzutage überhaupt Gold, Silber und Bronze unterschieden werden. Stellen Sie sich mal eine Sekunde vor:
Ein – und – zwan – zig
Das, was Sie da sprechen, sind Viertelsekunden. Nun denken Sie sich jede Silbe noch einmal in 25 Ticks aufgeteilt. Das ist wahnsinnig kurz. Und nun kommt der Clou: Auch eine Messung in Tausendstelsekunden wäre möglich, und sie wird es geben, sobald der Weltskiverband es beschliesst.

Die Zeitmessung ist also zu einer Präzision aufgestiegen, die man vor 40 Jahren sich nur in den kühnsten Träumen ausmalen konnte. Da konnte die Uhr stehenbleiben, weil man sie nicht ständig aufgezogen hatte, da gingen Uhren vor und nach, da musste man sich von irgendwoher die korrekte Zeit besorgen, z.B. vom Telefon.
Beim nächsten Ton ist es 8 Uhr, 2 Minuten und 10 Sekunden
Piiiiiiiiiiiiiiieeeeeeeeeeeeeeeeeeeeppppppppppppppppppp
Beim nächsten Ton ist es 8 Uhr, 2 Minuten und 20 Sekunden
Piiiiiiiiiiiiiiieeeeeeeeeeeeeeeeeeeeppppppppppppppppppp
Beim nächsten Ton ist es 8 Uhr, 2 Minuten und 30 Sekunden
Piiiiiiiiiiiiiiieeeeeeeeeeeeeeeeeeeeppppppppppppppppppp
Kennen die Jungen nicht mehr, das nannte man Zeitansage.
Heute sind alle Uhren elektrobetrieben und funkgesteuert, überall haben wir die absolute exakte Zeit, es gibt gar keine Möglichkeit mehr, NICHT zu wissen, wie spät es ist. Wir haben Uhren auf dem Handy, dem Tablet, wir tragen die Zeit im Laptop mit herum und ständig läuft uns eine Normaluhr über den Weg. Ganz fortschrittlichen Leuten wird die Zeit in die Brille geleuchtet, ist in die Kleidung integriert oder wird im Hörgerät gesprochen.
Wir haben exakte, genaue, wir haben präzise und in Tausendstelsekunden messbare Zeit, wir können eigentlich gar nicht mehr zu spät sein.

Aber wir sind es!
Die Pünktlichkeit, einst eine der Haupttugenden, verhält sich umgekehrt proportional zum Fortschritt der Zeitmessung. Anders formuliert: Je genauer die Uhren, desto unpünktlicher werden die Menschen.

Man will ja auch nicht zu früh sein…
Das ist der klassische Satz der Zuspätkommer. Man will ja auch niemand zu früh stören.
Blödsinn.

«Du bist zu spät.»
Das ist der Hammersatz, ein Hammersatz, zu dem uns Millionen von Bücher, Balladen und Filmszenen einfallen. Die Gefahr, zu früh zu sein, würde keine Spannung erzeugen.
Stellen Sie sich vor, Damon würde die gesamte Bürgschaft über, damit ringen, nicht zu früh seinen Kollegen auszulösen und Philostratus würde ihm entgegenrufen:
So früh? Du rettest den Freund schon jetzt?
So geh noch ein wenig wandern…
statt
Zu spät! Du rettest den Freund nicht mehr
So rette das eigene Leben

Stellen Sie sich vor, 007 wäre so früh an der Bombe, dass der Zeitzünder noch gar nicht eingestellt ist, stellen Sie vor, der Agent seiner Majestät müsste den ganzen Film damit kämpfen, nicht eine halbe Stunde vor der Explosion an Ort und Stelle zu sein, nein, die Spannung entsteht dadurch, dass James Bond eben immer IM LETZTEN MOMENT handelt, agiert, dass er IN LETZTER SEKUNDE die Welt rettet, die Vernichtung des Homo sapiens verhindert und den Bösen ausschaltet.

Ebenso wäre es Quatsch, wenn die Kavallerie einreitet, bevor die Helden an den Marterpfahl gebunden werden und Winnetou auf seiner unvergesslichen Melodie einschwebt, bevor überhaupt irgendetwas Böses passiert ist.

Das Zufrühsein kann ja auch ganz leicht gelöst werden.

Nämlich mit Warten.
Wenn ich also um 9.50 in der Rue de Bâle in Delemont sein muss, dann nehme ich den Zug um 8.03, bin um 8.40 im Jura und gehe noch einen Kaffee trinken. Der Zug um 9.03 reicht nämlich nur, wenn er keinerlei Verspätung hat, alle Ampel auf Grün stehen und ich mir nicht noch meinen Schnürsenkel binden muss, weil er aufging.

Wenn man zu früh ist, dann kann man noch einen Spaziergang machen, man kann sich in die Sonne setzen, man kann ein Getränk zu sich nehmen oder etwas essen, wenn man zu früh ist, hat man 5670 Möglichkeiten, die Zeit sinnvoll zu nutzen, oder auch einfach totzuschlagen, was manchmal auch ganz reizvoll sein kann.
Man kann auch – wenn man diese inzwischen rar gewordene Kulturtechnik beherrscht – lesen. 

Die Zeitmessung ist zu einer Präzision aufgestiegen, die man vor 40 Jahren sich nur in den kühnsten Träumen ausmalen konnte.
Dennoch werden wir immer unpünktlicher.
Mehr dazu am Freitag.







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