Wenn so ein
alter Knacker wie ich sich die Ergebnisse beim Skifahren anschaut, dann gerät
er ins Grübeln. Die gleichen Rennen, in meiner Jugendzeit geguckt, hätten
nämlich das folgende Resultat gebracht: Alle Athletinnen und Athleten sind
gleich schnell. Nur durch die Messung in Hundertstelsekunden kann heutzutage
überhaupt Gold, Silber und Bronze unterschieden werden. Stellen Sie sich mal
eine Sekunde vor:
Ein – und –
zwan – zig
Das, was Sie
da sprechen, sind Viertelsekunden. Nun denken Sie sich jede Silbe noch einmal
in 25 Ticks aufgeteilt. Das ist wahnsinnig kurz. Und nun kommt der Clou: Auch
eine Messung in Tausendstelsekunden wäre möglich, und sie wird es geben, sobald
der Weltskiverband es beschliesst.
Die
Zeitmessung ist also zu einer Präzision aufgestiegen, die man vor 40 Jahren
sich nur in den kühnsten Träumen ausmalen konnte. Da konnte die Uhr
stehenbleiben, weil man sie nicht ständig aufgezogen hatte, da gingen Uhren vor
und nach, da musste man sich von irgendwoher die korrekte Zeit besorgen, z.B.
vom Telefon.
Beim nächsten Ton ist es 8 Uhr, 2 Minuten
und 10 Sekunden
Piiiiiiiiiiiiiiieeeeeeeeeeeeeeeeeeeeppppppppppppppppppp
Beim nächsten Ton ist es 8 Uhr, 2 Minuten
und 20 Sekunden
Piiiiiiiiiiiiiiieeeeeeeeeeeeeeeeeeeeppppppppppppppppppp
Beim nächsten Ton ist es 8 Uhr, 2 Minuten
und 30 Sekunden
Piiiiiiiiiiiiiiieeeeeeeeeeeeeeeeeeeeppppppppppppppppppp
Kennen die
Jungen nicht mehr, das nannte man Zeitansage.
Heute sind
alle Uhren elektrobetrieben und funkgesteuert, überall haben wir die absolute
exakte Zeit, es gibt gar keine Möglichkeit mehr, NICHT zu wissen, wie spät es
ist. Wir haben Uhren auf dem Handy, dem Tablet, wir tragen die Zeit im Laptop
mit herum und ständig läuft uns eine Normaluhr über den Weg. Ganz
fortschrittlichen Leuten wird die Zeit in die Brille geleuchtet, ist in die
Kleidung integriert oder wird im Hörgerät gesprochen.
Wir haben
exakte, genaue, wir haben präzise und in Tausendstelsekunden messbare Zeit, wir
können eigentlich gar nicht mehr zu spät sein.
Aber wir
sind es!
Die
Pünktlichkeit, einst eine der Haupttugenden, verhält sich umgekehrt
proportional zum Fortschritt der Zeitmessung. Anders formuliert: Je genauer die
Uhren, desto unpünktlicher werden die Menschen.
Man will ja
auch nicht zu früh sein…
Das ist der
klassische Satz der Zuspätkommer. Man will ja auch niemand zu früh stören.
Blödsinn.
«Du bist zu
spät.»
Das ist der
Hammersatz, ein Hammersatz, zu dem uns Millionen von Bücher, Balladen und
Filmszenen einfallen. Die Gefahr, zu früh zu sein, würde keine Spannung
erzeugen.
Stellen Sie
sich vor, Damon würde die gesamte Bürgschaft
über, damit ringen, nicht zu früh seinen Kollegen auszulösen und Philostratus
würde ihm entgegenrufen:
So früh? Du rettest den Freund schon jetzt?
So geh noch ein wenig wandern…
statt
Zu spät! Du rettest den Freund nicht mehr
So rette das eigene Leben
Stellen Sie
sich vor, 007 wäre so früh an der Bombe, dass der Zeitzünder noch gar nicht
eingestellt ist, stellen Sie vor, der Agent seiner Majestät müsste den ganzen
Film damit kämpfen, nicht eine halbe Stunde vor der Explosion an Ort und Stelle
zu sein, nein, die Spannung entsteht dadurch, dass James Bond eben immer IM
LETZTEN MOMENT handelt, agiert, dass er IN LETZTER SEKUNDE die Welt rettet, die
Vernichtung des Homo sapiens verhindert und den Bösen ausschaltet.
Ebenso wäre
es Quatsch, wenn die Kavallerie einreitet, bevor die Helden an den Marterpfahl
gebunden werden und Winnetou auf seiner unvergesslichen Melodie einschwebt,
bevor überhaupt irgendetwas Böses passiert ist.
Das
Zufrühsein kann ja auch ganz leicht gelöst werden.
Nämlich mit
Warten.
Wenn ich
also um 9.50 in der Rue de Bâle in Delemont sein muss, dann nehme ich den Zug
um 8.03, bin um 8.40 im Jura und gehe noch einen Kaffee trinken. Der Zug um
9.03 reicht nämlich nur, wenn er keinerlei Verspätung hat, alle Ampel auf Grün
stehen und ich mir nicht noch meinen Schnürsenkel binden muss, weil er aufging.
Wenn man zu
früh ist, dann kann man noch einen Spaziergang machen, man kann sich in die
Sonne setzen, man kann ein Getränk zu sich nehmen oder etwas essen, wenn man zu
früh ist, hat man 5670 Möglichkeiten, die Zeit sinnvoll zu nutzen, oder auch
einfach totzuschlagen, was manchmal auch ganz reizvoll sein kann.
Man kann
auch – wenn man diese inzwischen rar gewordene Kulturtechnik beherrscht –
lesen.
Die
Zeitmessung ist zu einer Präzision aufgestiegen, die man vor 40 Jahren sich nur
in den kühnsten Träumen ausmalen konnte.
Dennoch
werden wir immer unpünktlicher.
Mehr dazu am
Freitag.
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