Montag, 8. August 2016

Illusionen - z.B. Olympia 2016

Wir leben in einem Zeitalter der Illusionen. Alles ist Trug, alles ist Schein. Es wird Ihnen eigentlich den ganzen Tag ein Gefühl, eine Ahnung von etwas vermittelt, ohne dass es zur Realität gären müsste. Das fängt schon morgens an: Sie duschen mit einem Minz-Orange-Duschgel, das Ihnen die Illusion vermittelt, jetzt wach und energiegeladen und fröhlich zu sein, die 5 Stunden fehlenden Schlaf kann Minze nicht wettmachen, aber sie gibt Ihnen das Gefühl, sie könnte es. Dann geht es zur Kaffeemaschine, die Ihnen mit ihrer sauteuren Elektronik vortäuscht, sie würde jetzt einen Espresso brauen, der speziell auf Ihre Bedürfnisse, Ihren Geschmack und Ihre Vorlieben abgestimmt ist, ja, Sie haben das Gefühl, die Illusion, dass jede Bohne Ihren Namen trägt. Dann geht es noch kurz ins Facebook, und auch hier Illusion: Sie haben jetzt 300 Freunde, was sind Sie doch beliebt und vernetzt, Ihr Vater hatte nur drei treue Freunde, was für eine arme Sau.
So energiegeladen und frisch starten Sie in den Tag, und da macht es Ihnen auch gar nichts aus, dass auf dem Weg zur S-Bahn ständig Leute mit starrem Blick in Sie hineinrennen, weil hinter Ihnen ein zu fangendes Gelbtier sitzt, nein, es sitzt natürlich nicht wirklich da, es ist eine Illusion, ein Trugbild, eine Fata Morgana.

Auch ich arbeite hier natürlich mit Illusion; die Glosse ist nämlich eine Gattung, die irgendwo zwischen Skizze und Journalismus herumgeistert, aber den Lesern das Gefühl, die Ahnung vermittelt, es könnte sich um Literatur handeln. Um Literatur zu sein, müsste man tagelang an Wortklang, Wortstellung, an Syntax und Interpunktion herumdoktern, und die Musse kann ich mir als nebenbei arbeitender Mensch nicht gönnen. "I was working on the proof of one of my poems all the morning, and took out a comma. In the afternoon I put it back again." Ja, lieber Oscar, die Zeit habe ich leider nicht, beim besten Willen nicht. So ist die Kolumne, die Glosse eine Sache, die auf Illusion beruht, die Illusion, mehr als nur besseres Zeitungsgewäsch zu sein. Umgekehrt vermitteln Boulevard- und Wurfzeitung die Illusion, das Trugbild, Journalismus zu sein. Denn zu letzterem würde ja so etwas wie Recherche gehören, einer Handlung, von der sich BLICK, BILD, der Telegraaf oder die SUN mit Ekel abwenden. Wen interessiert, ob die 6 Meter-Python auf dem Foto wirklich die Schlange ist, die der Mann im Garten hatte? Und würde irgendjemand die Zeitung kaufen, wenn die Schlagzeile BLINDSCHLEICHE VOR DER TÜRE - MANN (52) ZU TODE ERSCHROCKEN lautete?

Heikler wird es, wenn man an ernstere und weltweitere Dinge mit Illusionen herangeht. Da muss man schon gut planen, gut vorbereiten, dass die Menschheit die Fata Morgana, das Trugbild akzeptiert. Wussten Sie, dass es beim IOC den Posten eines LRI, eines Leading Responsible for Illusions gibt, ein Posten, den zurzeit Jack Manster aus Kanada innehat, und dem immerhin eine Abteilung mit 100 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zugeteilt ist? Der LRI hat vier Punkte auf seiner Agenda:
1.) Wir vermitteln die Illusion, bei den Spielen gehe es um Sport.
2.) Wir vermitteln die Illusion, die Bevölkerung freut sich wie Schneekönige auf die Spiele und profitiert von Ihnen.
3.) Wir vermitteln die Illusion, wir hätten das Doping unter Kontrolle.
4.) Wir vermitteln die Illusion, die Spiele seien sicher.

Warum das alles Trugbilder, Fatae Morganae sind? (Ich weiss, dass der Plural falsch ist, aber er sieht so gebildet aus, auch das wieder Illusion...)
Ich bitte Sie:
Wenn ich von der DRUZAMAG gebeten werde, auf einer Betriebsveranstaltung Klavier zu spielen ("Klassik oder leichten Jazz! Ja keine Musik des 20. Jahrhunderts! Am besten Mozart! Was zum Innerlichmitsingen!), dann geht es hier nicht um Kultur, es geht um die Selbstdarstellung der DRUZAMAG. Und so fördern CocaCola und NIKE nicht die Spiele, weil sie Wettkämpfe lieben, sondern springen, rennen, schwimmen und biken die Athletinnen und Athleten, um für CocaCola und NIKE zu werben. So einfach ist das.
Schwieriger ist die Frage, ob die Leute im Land die Spiele mögen. Einige tun das nämlich sehr wohl. Ob allerdings die 10köpfige Familie, deren Favela dem neuen Stadion weichen musste, und die sehr handgreiflich aus ihrem Wellblech entfernt wurde, Olympia 2016 wirklich geil findet, ich habe da meine Zweifel... Und ich habe auch immer meine Zweifel, ob ein Land wirklich von der Grossveranstaltung profitiert. Klar ist, dass auf der ganzen Welt Stadien und Arenen leer stehen und verfallen. (Man stelle sich das mal in der Kultur vor: Ein Opernfestival, nach dessen Ende das neu erstellte Opernhaus einfach gesprengt wird, gut, Pierre Boulez hätte seine Freude daran.) Dass es auch neue S-Bahnen und Tramlinien gibt, ist wunderbar, aber wer hat in Zukunft etwas von der S6 und U3, wenn diese zu den Stadien und Arenen hinführen, die dann nur noch Geisterruinen sind?

Punkt 3 ist sicher die grösste Illusionsmacherei. Die Anti-Doping-Agenturen stehen seit Jahren auf verlorenem Posten. Aber es wird immer wieder das Gefühl vermittelt, man habe die Lage im Griff. "Wer dopt, den erwischen wir - die anderen sind clean." Guter Satz, aber er muss doch anders lauten. "Wen wir erwischen, war gedopt - die anderen sind uns durch die Lappen." Und ich rede nicht von Volleyball oder Fechten, wo die Substanzen einfach nix bringen.
Sichere Spiele? Eine Illusion. Jeder und jedem ist klar, dass eine komplette Kontrolle aller Wettkampfstätten, aller Verkehrsmittel, aller Plätze schlicht unmöglich ist.

Warum aber hat dann Jack Manster Erfolg - und die Eröffnung hat gezeigt, wie gut der LRI und seine Mannschaft arbeiten?
Weil wir die Illusionen wollen. Wir WOLLEN glauben, dass Minzduschen uns wach macht. Wir WOLLEN glauben, einen personifizierten Kaffee zu trinken und 5000 echte Freunde zu haben. Sie WOLLEN auch das Gefühl bekommen, hier Literatur zu lesen, es gibt Ihnen ein so intellektuelles Gefühl.
Und wir WOLLEN glauben, dass Olympia 2016 keine Cola- sondern eine Sportsache ist, dass alle Brasilianer jubeln, dass es kein Doping gibt und absolute Sicherheit.
Wenn dem nicht so wäre, könnte sich Manster erschiessen.

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