Montag, 22. August 2016

12.30 ab Olten - Zug der Umkehr

Ich stehe um 12.25 am Gleis 10 im Bahnhof Olten und warte auf meinen Zug nach Basel. Auf Gleis 11 fährt der Intercity ein, der um 12.29 nach Bern weiterfahren wird. Als der Zug angehalten hat, folgt die übliche Durchsage mit den Anschlussverbindungen, und zum ersten Male fällt mir auf, dass der IC um 12.30 nach Basel hier nicht genannt wird. Komisch, dass ich das noch nie gemerkt habe, aber es ist eindeutig, mein Zug ist nicht dabei, man kann nach Aarau, Zürich, Luzern, man kann diverse Regionalbahnen nehmen, aber nicht nach Basel. Nun kommt auch mein Zug, den ich, ins Grübeln vertieft, besteige. Als der Kontrolleur mein GA an seinen Apparat gehalten hat, lässt es mir keine Ruhe und ich frage ihn höflich: «Warum wird dieser Zug den Leuten auf Gleis 11 nicht als Verbindung genannt?» Er stutzt, grinst und meint nur lapidar: «Aber jener Zug auf Gleis 11 kommt doch aus Basel!» «Und Menschen, die umkehren wollen?» «Umkehr ist für die SBB kein Thema.»
Da haben wir’s. Allen wird Rechnung getragen, nur denen, die auf schnellstem Wege zurück möchten, wird das Leben schwergemacht. Dabei wäre doch gerade für jemand, der ohne Zeit zu verlieren zurück an den Ausgangsort will, der Hinweis auf den nächsten Zug, der ihn wieder auf LOS bringt, extrem wichtig.

Gründe gebe es viele.

Da könnte man zum Beispiel merken, dass man im falschen Zug sitzt. Oder man könnte verschlafen haben, der 12.29 kommt nämlich aus Deutschland, und wenn jemand am Badischen Bahnhof eingeschlafen ist, hat er Basel SBB vielleicht verpennt. Oder man hat etwas vergessen, etwas, was man am Bahnhof nicht kaufen kann, die Vertragsunterlagen, die Brille oder das Hörgerät, die Dritten Zähne oder die Medikamente. Alles das Gründe, in Olten aus dem Zug hüpfen zu müssen und sofort, sofort ohne Umschweife eine Verbindung zurück an Rhein zu haben.

Spannender allerdings ist die Umkehr, die nicht durch äussere Umstände, sondern von innen heraus motiviert ist. Und damit meine ich nicht, dass ein Bussprediger im wallenden Gewand und mit Sandalen beschuht durch den IC geschritten ist und «Kehrt um! Das Ende ist nahe!» gerufen hat und alle auf einmal Busse tun und umkehren, nein, ich meine den gar nicht so seltenen Fall, dass man darauf gekommen ist, da, wo man hin will, gar nicht hin zu wollen.
Da wird Marco, der nach Bern fährt, weil er ein Bewerbungsgespräch für einen Marketingposten bei einem Küchenausstatter hat, urplötzlich klar, dass er eigentlich schon seit Jahren nichts so hasst wie den Verkauf und dass inzwischen Hängeschränke, Herde und Arbeitsflächen ihm den Schweiss auf die Stirn und die Tränen in die Augen treiben.
Und nimmt den 12.30 nach Basel.
Da wird Yannik, der nach Bern fährt, wo er einen Lokaltermin für seine Hochzeit hat, urplötzlich klar, dass er die drei letzten Nächte, die er mit Sven verbracht hat, nun doch nicht einfach so ignorieren kann, und dass es an der Zeit ist, nun mal ernsthaft über seine sexuelle Orientierung nachzudenken.
Und nimmt den 12.30 nach Basel.
Es gibt aber auch harmlosere Beispiele. Wenn z.B. Margrit, die sich den Besuch im Zentrum Paul Klee schon lange vorgenommen hat, aus heiterem Himmel von einem Ekel gepackt wird, einem Klee-Ekel, einem Klee-Ekel, der so stark, so brutal ist, dass sie unter keinen Umständen sich den Tag verkleeen will.
Und nimmt den 12.30 nach Basel.
Manchmal merkt man auch einfach, dass an einem Tag wie diesem einfach nix geht, dass alles, was heute machen wird, Mist sein würde. Und man dreht um, nimmt den 12.30 nach Basel und legt sich aufs Sofa.

Solche Wendungen und Drehungen sind natürlich nicht im Sinne der Allgemeinheit. Wo kämen wir hin, wenn alle Leute plötzlich umkehren? «Wer A sagt, muss auch B sagen», spricht der Volksmund und «Die Suppe, die man sich eingebrockt hat, löffelt man auch aus». Ganz schön hat es mal ein Denker formuliert: «Konsequenz heisst auch einen Holzweg zu Ende zu gehen.» Das ist stark, das ist männlich, tapfer, das hat Klasse, das hat Stil, das ist beeindruckend.

Und entsetzlich bescheuert.

Ist es nicht besser, Marco nimmt den 12.30 wie eine Stelle, wo er dann irgendwann Kollegen und Kunden beleidigt, Inventar zertrümmert und den Fussboden ruiniert, weil er – wie gesagt – einfach keine Küchen mehr erträgt?
Ist es nicht besser, Yannick vertagt erst einmal seine Hochzeit und findet heraus, ob er nun hetero, schwul, bi oder irgendetwas anderes ist?
Ist es nicht besser, Margrit nimmt den 12.30 nach Basel, als dass sie im Zentrum Paul Klee anfängt zu randalieren und mit Salzsäure auf Bilder losgeht, weil der Klee-Ekel sie im Griff hat?
Und wäre es nicht besser, alle Politiker, alle Wirtschaftsbosse, alle Manager und Kaderleute, alle Militärs und Funktionäre, alle IOC-ler und EU-ler, alle die, die heute effektiv nur Mist machen würden, nähmen die entsprechenden Züge und legten sich aufs Sofa? Einfach mal nix tun statt Unsinn? Man stelle sich nur vor, was passiert wäre, wenn z.B. ein gewisser Herr am 9.11.1923 (auch ein Nine Eleven!!!) gesagt hätte: «Zur Feldherrnhalle latschen? Zu Fuss? Viel zu anstrengend. Ich hau mich auf die Chaiselongue, rauche, trinke Kaffee und lese Zeitung, ist viel chilliger.» (Zugegeben: «chillig» hätte er damals nicht gesagt.)

Berthold Brecht hat es im Stück Der Nein-Sager auf den Punkt gebracht:
Wer A sagt, muss nicht B sagen.
Er kann auch erkennen, dass A falsch war.  
















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