Freitag, 13. Mai 2016

Menschen sollten sich nicht verstehen, Babel war die Chance und Pfingsten die Strafe

Ich sitze im Zug nach Bern und lausche gebannt der Unterhaltung zweier Asiaten, ich kann beim besten Willen nicht sehen, ob es Vietnamesen, Koreaner oder Bangladescher sind. «Mao Tao», sagt der eine. «Kwei Zei», antwortet der andere, worauf der erste wiederum ein entschiedenes «Suao gi Bamoa» entgegenwirft. Der zweite überlegt eine Weile, meint dann aber bestimmt: «Ua Totui gi Kamoui, lei lei.» Der erste nickt, muss aber noch ein klares «Fao tubu gi Qui Gao» ergänzen.

Worüber reden die zwei? Wahrscheinlich über ein Zitat eines Weisheitslehrers aus dem 11. Jahrhundert, in dem jener die Schönheit des Wassers mit der Schönheit der Sonne verglich, und die beiden sind in eine lebhafte Diskussion über die Möglichkeiten und Grenzen der Sinneswahrnehmung geraten. Stelle ich mir so vor, schliesslich sind es Vietnamesen, oder Koreaner, oder Bangladescher, auf jeden Fall Leute, die schon mit der Muttermilch die Weisheit des Fernen Ostens aufsaugen.

Aber eventuell war der Gesprächsinhalt ein völlig anderer, und da bin ich froh, sie nicht verstanden zu haben, denn so kann ich mir die Illusion einer Konfuzianistischen Kommunikation aufrechterhalten. Vielleicht hat der erste «heute Abend will ich ficken» gesagt, und der zweite Koreaner, Bangladescher oder Vietnamese hat «es gibt bestimmt Nutten in Bern» geantwortet, worauf ein «aber eine mit grossen Brüsten» folgte, dem ein «knackiger Po ist viel wichtiger» entgegnet wurde. Das Ganze mündete dann eventuell in einem «beides wichtig».

Oder haben die beiden Asiaten sich doch ganz der Allgegenwart von Licht und Wasser hingegeben? Oder ganz banal darüber geredet, ob sie nach Köniz (BE) mit dem Taxi, mit dem Tram, mit dem Bus, der S-Bahn oder zu Fuss kommen?

Manchmal ist es viel besser, wenn man die Leute nicht versteht. In seiner vierteiligen Trilogie Per Anhalter durch die Galaxis lässt Douglas Adams den Babelfisch auftauchen, ein kleines Tier, das man sich ins Ohr schiebt und das, weil es sich von den Gehirnströmen seines Wirtes nährt, alles simultan übersetzt. Dieser Babelfisch sei an vielen Kriegen schuld, so der Autor, weil er zum Verstehen beigetragen habe. Und der schwedische Schriftsteller Jonas Jonasson lässt in seinem Roman Die Analphabetin, die rechnen konnte die Protagonistin beim Übersetzen aus dem Chinesischen mit dem eigentlich Gesagten relativ frei umgehen, was den Politikern, die sie dolmetscht zwar ob der Länge der Rede auffällt, aber ziemlich viel Weltgeschichtsunheil verhindert.

Die verschiedenen Sprachen sind der Bibel nach die Strafe für den «Turmbau zu Babel», als die Menschen zu hoch hinauswollten und Jahwe machte, dass sie sich nicht mehr verstanden. Das Gegenstück im Neuen Testament ist die Pfingstgeschichte, bei der die Rede des Petrus auf einmal von allen in ihren Sprachen (Griechisch, Medisch, Parthisch usw.) gehört wird.

Ist es aber nicht möglicherweise umgekehrt? So, dass die Babylongeschichte der Segen und Pfingsten der Fluch war? Dass die Menschheit an Pfingsten mit dem Verstehen bestraft wurde? Dass die vielen Konflikte daher rühren, dass man weiss, was der andere sagt?

Wenn Sie in der Moskauer U-Bahn einem Moskowiter auf den Fuss treten und er Ihnen so etwas wie ein «dwidow tschoksch» entgegenschleudert, dann denken Sie sicher, er habe «au, das tat weh» gesprochen und entschuldigen sich gestisch tausendmal. Die Beleidigung, die etwas mit dem Beruf Ihrer Mutter zu tun hatte, die haben Sie nicht verstanden.

Wenn Sie in einem Café in Bogota bemerken, dass die zwei Leute am Nachbartisch über Sie reden, gehen Sie nicht davon aus, dass diese Ihre makellose Figur, Ihren schönen Teint und Ihre modische Kleidung loben? Was gäbe es für einen Ärger, wenn Sie hören könnten, dass die beiden Kolumbianerinnen oder Kolumbianer im Stil der barocken Körperteil-Lyrik über alles bei Ihnen herziehen, vom Kopf bis Fuss, ja, dass diese jeden Part Ihres Leibes hässlich und abstossend finden?

Auch ist es besser, eine Sprache nur ein wenig zu können als alle Phrasen, alle Wendungen, alle Redensarten und Sprichwörter präsent zu haben. «Sie können mich mal gerne haben.» schrieb Max Koppler an Jon McGarty in Bluetown, Delaware und jener Jon freute sich, dass der Deutsche ihm so nett die Freundschaft anbot. «You are welcome» hören wir in Amerika immer wieder, und wir freuen uns, dass wir angenommen, willkommen, dass wir erwünscht, geliebt, dass wir gerngesehene Fremde sind. Wüssten wir, dass die Phrase einfach die normale Antwort auf ein «Thank you» ist, entsprechend dem deutschen «gern geschehen», wären wir doch hammerenttäuscht und nagelgeschlagen.

Nein, Babel war die Chance und Pfingsten war die Strafe, und das ganze Internet, Übersetzungsprogramme, die ganze Dolmetscherei, das ganze internationale Zeug macht es immer schlimmer. Zum Glück sind die Übersetzungsprogramme noch grottenschlecht, das weiss jede und jeder, der oder die schon einmal versucht hat, einen sinnvollen Text sinnvoll in einen sinnvollen Text einer anderen Sprache zu verwandeln. Oder jede/jeder der/die sich die Mails durchliest, in denen man gebeten wird für eine kleine Gebühr endlich, endlich, endlich die Erbschaft über 20000000000000 Dollar anzunehmen, die seit vierzehn Monaten auf einer Bank in Seattle auf einen wartet. Aber ein wenig bringt das PC-Übersetzen eben doch, und dann wird der Albanische Songtext, der sich so romantisch anhörte, auf einmal doch schrecklich banal.

Die beiden Koreaner, Bangladescher oder Vietnamesen (oder vielleicht doch Thais? Chinesen oder Japaner sind es nicht…) haben inzwischen gemerkt, dass ich intensiv zuhöre. Und weil sie meinen, ich hätte ein paar Brocken verstanden, spricht der eine mich an: «Wenn Weng Loa Tao 1356 schreibt Feuer ist Vogel und Vogel ist Feuer, dann meint er doch nicht, dass die beiden Dinge wirklich gleich sind, sondern er spricht von der Wahrnehmung, oder was meinen Sie?»

Mein Asienbild ist wieder völlig in Ordnung.  

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