Freitag, 15. Mai 2015

Klotzen!



Ich habe – wieder einmal – ein Problem mit Trauermotten. Wobei sie eigentlich kein Problem darstellen: Sie nicht giftig, sie sind nicht laut, sie schaden der Pflanze nicht, sie fressen keine Nahrungsmittel und sie machen nichts kaputt. Sie schweben einen Tag herum und lassen sich dann zum Sterben nieder und ebendas ist das Problem: Du wirst am Herd, auf dem Sofa, beim Rasieren und am PC von kleinen schwarzen Punkten umschwirrt und beim Putzen fegst und wischst du gefühlte 1.000.000 tote Tiere weg. Ich habe Gelbfallen aufgestellt, ich habe Sticks in die Erde getan, alle noch ohne den wirklichen Effekt. Nun habe ich aber heute noch einmal auf die Stickpackung geschaut und gemerkt, dass ich einfach zu wenig genommen habe. Für einen 45 cm- Durchmesser-Topf brauche ich nicht zwei sondern sechs! Ich muss also hier klotzen und nicht kleckern, ich muss hier mal richtig verschwenden und nicht sparen, hier muss eine ganze Menge ran.

Manchmal muss es einfach viel sein.
Manchmal muss man einfach übertreiben.
Manchmal ist die homöopathische Dosis die falsche.

Das ist jetzt ein relativ revolutionärer Satz, denn die Devise des 21. Jahrhunderts ist Mässigung.
Wollen Sie Beispiele?
Während früher Tee ein goldgelbes, aromatisches, belebendes und putschendes Gesöff war – Mach ihn stark, hörst du? Ich will den Tee stark haben sagt die Mutter bei Thomas Bernhard in Am Ziel – trinkt man heutzutage ein gefärbtes Wasser, das sich Chai nennt und mischt dieses Spülwasser auch noch mit Milch, was einen Chai Latte ergibt, eine Flüssigkeit, bei der mir die Leute, die sie vor sich haben immer entsetzlich leidtun: Müssen sie dieses etwas, das aussieht, als hätte man einen Pinsel mit weisser Farbe zum Auswaschen reingestellt, wirklich in ihre Speiseröhre leiten?

Wenn ich nach einem Tag Aufbaustudium Dirigieren in Trossingen am Abend auch noch einen Termin in Freiburg hatte, nahm ich einen Ristretto in der Kolben-Kaffee-Akademie am Martinstor, eine Adresse, die auch Baslern bekannt ist. Dieser Hypercaffè fuhr wie ein LSD-Schub in dein Zentralnervensystem und riss dich wie eine Marionette, die am Boden liegt und nun an allen Schnüren gezogen wird, hoch. Heute trinkt man koffeinfreien Cappuccino – wenn es geht, auch lactosefrei – lassen Sie sich das mal auf der Zunge zergehen, nein, natürlich nicht diese Perversion eines Kaffees, sondern die Vorstellung: Ein Getränk, dem das entscheidende fehlt, gemischt mit artfremdem weissen Zeug.

Heutzutage kann es sein, dass Sie auf eine Party eingeladen werden, bei der Sie mit drei Millilitern Prosecco begrüsst werden, vom Hinweis sekundiert: „Das ist nur zum Anstossen, der Rest des Abends ist natürlich alkoholfrei.“ Und Sie hoffen, dass irgendjemand den Gastgeber gut kennt und heimlich ein paar Drogen (Beaujolais, Dôle oder Montepulciano) eingeschmuggelt hat.

Nun werden Sie einwenden, dass Hypotoniker und Herzkranke, dass Menschen mit gesundheitlichen Problemen doch eher… Einverstanden.
Aber das ist es ja gerade: Während früher der KAFFEE HAAG® ein typisches Altherren- und Altdamengetränk war, während früher die Über-80-Jährigen bei Wein, Bier und Schnaps „ein bissle aufpassen“ mussten, sind es heute topfitte, junge, durchtrainierte Leute, die sich zum Fitnessteller ein alkoholfreies Weizenbier bestellen und das Menü mit einem kalorienreduzierten Dessert und einem koffeinfreien Cappuccino oder einem Chai Latte abschliessen. Leute, deren Körper ein Heute-Schlagen-Wir-Über-Die-Stränge-So-Jung-Kommen-Wir-Nicht-Mehr-Zusammen gut verarbeiten könnte.

All das kommt wieder einmal aus Amerika, und so ist es besonders schön, wenn es in Klara oder die Liebe zum Zoo von einer in den USA lebenden Deutschen heisst:

Sie wollte jetzt vor allem Alkohol.
Und fettes, ungesundes Essen.
Und von allem viel.

Das ist unglaublich frech in einem Staat, in dem Fitness Religion ist und jeder seinen Hometrainer unter dem Bett hat, in dem der Satz „Ich gehe jetzt eine rauchen“ gleichkommt mit „Ich gehe jetzt einen Knaben schänden“ oder „Ich gehe jetzt eine Bank überfallen“, ein Land, in dem ganze Bundessstaaten von Joggern (California) oder Antialkoholikern (Utah) regiert werden, ein Land, das den Entkoffeinierten Cappuccino und wahrscheinlich auch den Chai Latte erfunden hat, da ist dieser Satz fast wie ein Fanal.

Sie wollte jetzt vor allem Alkohol.
Und fettes, ungesundes Essen.
Und von allem viel.

Manchmal muss es eben viel sein, manchmal braucht es unhomöopathische Mengen, manchmal muss man klotzen.
Und wenn mich jetzt jemand für einen kettenrauchenden Delirier hält, der eine Fresswampe vor sich trägt, wenn jemand mich als völlig unverbesserlich ansieht, dann hat er ein Wort überlesen:
Manchmal.
Nicht immer.
Manchmal.

So, und nun werde ich meine Töppe mit 500 Sticks versehen. Und danach gibt es fettes, ungesundes Essen. Und Alkohol. Und danach gibt es einen Ristretto, denn für mich ist alles andere immer noch Opa-Kaffee, denn immerhin sagt die reizende junge Dame in dem Spot, indem in den (verwechselten) Koffer von George Clooney geschaut hat: „I thought you were more… Ristretto. Good night, Mr. Decaffeinato.“   

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