Dienstag, 2. Dezember 2014

Die Reue löst Kreuzworträtsel

Die ältere Dame im Bahnhofsrestaurant löst Kreuzworträtsel. Sie hat die leergetrunkene Tasse Kamillentee und den Teller mit den Sandkuchenkrümeln beiseitegeschoben, um Platz für das Rätselheft zu haben; sie kaut an ihrem Bleistift und füllt in unregelmässigen Abständen senkrecht oder waagerecht etwas aus. Manchmal streicht sie sich durch die mausgrauen Haare oder richtet etwas an ihrer mausgrauen Kleidung.
Woher kenne ich sie? Wo ist sie mir schon einmal begegnet?
Da ich partout nicht draufkomme, komme ich nicht umhin, hinzugehen und sie zu fragen.
Sie legt ihren Stift beiseite, streicht noch einmal durch ihre mausgraue Frisur und meint:
„Von einem Bild. Ich bin die Reue.“

Natürlich, natürlich! Die Allegorie der Reue von Hans Schlubfhaimer  d.Ä., Öl auf Leinwand, 145x180 cm, zu sehen in der Städtischen Galerie Grimshausen, dort allerdings ohne Kreuzworträtsel, sie sitzt an einem einfachen, hölzernen Tisch, auf dem eine Wasserschale steht und bittere Kräuter liegen.

„Jetzt erkenne ich Sie“, sage ich und zeige auf das Kreuzworträtsel, „Haben Sie nichts zu tun?“
Die Dame seufzt lange und laut. „Ich habe überhaupt nichts zu tun, mir ist so etwas von langweilig, das können sie sich überhaupt nicht vorstellen. Ich bin aus der Mode, ich bin nicht mehr en vogue, ich bin weder hip noch in, ich bin überout und überüberholt. Nun sitze ich montags hier und löse Kreuzworträtsel, dienstags gehe ich in den Zoo, mittwochs schaue ich fern usw…“
„Aber warum ist das so?“
„Sehen Sie“, die Reue zupft ein wenig an ihrer Bluse, „Je ne regrette rien ist das Motto dieser Tage. Niemand bereut mehr etwas, man hat stets richtig gehandelt, und wenn eine Sache falsch läuft, dann waren es die anderen, ausserdem wartet man ja stets die Untersuchung einer externen Kommission ab. Der Verlorene Sohn würde heute nicht mehr vor seinem Vater auf die Knie fallen, nein, er würde ganz frech sagen: „Papa, ich habe da ein klitzekleines Liquiditätsproblem, die pekuniäre Entwicklung der Summe, die du mir gabst, lief nicht so, du weisst schon, Finanzkrise und so, ein Wirtschaftsprüfer untersucht gerade das Ganze, jedenfalls bräuchte ich ein zinsloses Darlehen.“ Auf keinen Fall würde er die magischen Worte sprechen
"Vater, ich habe gesündigt, vor dem Himmel und vor dir..“

Sehen Sie, da kommt einem Polizisten in, sagen wir in Tootscha, Alabama ein Kind vor die Mündung, das dummerweise farbig ist und mit einer Spielzeugpistole hantiert, was man allerdings nicht sofort merkt. Und weil man ja weiss, dass farbige Ghettokinder häufig schon mit 8 ihre ersten Waffen tragen, schiesst man halt ein wenig zu früh und wenig zu sehr auf den Bauch, was dem farbigen Fast-Teenager nicht so gut bekommt. Hier wäre doch die passende Reaktion, dass es einem leidtut, dass man sich entschuldigt, dass man vielleicht sogar auf einem Gerichtsverfahren besteht, um die Sache klären zu lassen, die Reaktion ist aber: Ich habe mir nichts vorzuwerfen.
Da stellt man fest, dass die Lebensmittelfirma, die man leitet, seit Jahren Fleisch und Gemüse verkauft, das schon zu Wilhelm Tells Zeiten nicht mehr frisch war, und dann setzt man eine Kommission ein, und vor dem Abschlussbericht sagt man gar nichts, ja, man beschwert sich noch darüber, dass das Firmentor von Journalisten belagert wird und die Lieferanten nicht durchkommen. Kein Wort von Sorry, kein Wort von excuse me.
Oder nehmen Sie mal etwas Harmloses, den ÖV, wie oft hat es da Zugausfälle, Verspätungen, Ihre Reservierung hat nicht geklappt oder das Restaurant ist zu: Immer wird um Verständnis gebeten, immer muss ich etwas verstehen, nie wird um Entschuldigung gebeten, weil da ja das hässliche Wort Schuld drinsteckt.“

„Und warum ist das so?“
„Weil meine unheiligen Stiefschwestern, die Ausrede und der Hochmut Hochkonjunktur haben, die lösen keine Kreuzworträtsel, die sind nicht im Zoo anzutreffen, die schauen nicht fern. Die haben ihre Blogs, twittern, haben 200000000 Freunde auf Facebook und sind ständig im TV. Vielleicht kennen Sie die auch von Bildern.“
Ja, ich kenne auch diese Bilder, Allegorie der Ausrede von Michael Blumer d.J., Aquarell, 75x65 cm, Museum der Stiftung Metzger in Globenheim und Allegorie des Hochmuts von Johann von Brechtigen, Holzschnitt, 45x45 cm, Gemeindemuseum Hatterswil.
Auf ersterem hält eine magere, blonde Dame einen Fächer so, dass er ihr Gesicht fast bedeckt, während ihr Körper sich zu krümmen und zu winden scheint. Auf dem zweiten sitzt eine dunkelhaarige Schönheit mit wuchtigem Körper und grossem Vorbau stolz auf einem vollgepanzertem Schimmel. 

„Aber“, so die Dame weiter, „meine Zeit wird kommen, es kann ja nicht ewig so weitergehen. Und nun müssen Sie mich entschuldigen, ich muss dieses blöde Rätsel fertig kriegen, an dem ich schon eine halbe Stunde hocke, oder wissen Sie zufällig eine Norditalienische Stadt mit 5 Buchstaben, zweiter ein O?“
„Aosta.“
„Stimmt. Und österreicherischer Komponist, gestorben 1945 mit 6 Buchstaben?“
„Webern.“
„Sie sind ja richtig gut.“
Und so hocke ich noch ein paar Stunden mit der Reue im Bahnhofsrestaurant und löse Kreuzworträtsel. Morgen gehen wir zusammen in den Zoo. Man sollte ihr wirklich mehr Aufmerksamkeit schenken, sie ist eine sehr nette Dame.

  

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen