Donnerstag, 14. August 2014

Metamorphosen: Neue Haarschnitte

Detlev, mein Coiffeur, hat einen neuen Text über dem Spiegel hängen:
Herr Keuner traf einen Mann, den er lange nicht gesehen hatte. “Sie haben sich ja gar nicht verändert“, sagte dieser. „Oh“, sagte Herr K. und erbleichte.
„Gut, ne? Das is‘ von Pilava.“ Ich gebe zu bedenken, dass die Geschichte von Bertold Brecht ist, Pilava sie nur zitiert hat und dass es in ihr nicht hauptsächlich um Frisuren gehe.
Detlev lächelt sein schwulstes Lächeln:  „Um was denn sonst, Süsser, um was denn sonst?“ Dann beginnt er mir mit spitzen Fingern die Haare einzuschäumen.

Nachmittags ruft mich meine Freundin Dolly an. Sie will wieder einmal abnehmen und hat sich als Motivation einen Vers an die Badezimmerwand gepinnt:
Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde.
„Dolly“, sage ich, „du wirst doch nicht im Ernst die schönen Stufen von Hesse als Diäthilfe missbrauchen.“ „Aber das ist doch soooo passend: Das verfettete Herz nimmt Abschied von den Pfunden und wird gesund.“
Dazu fällt mir nichts mehr ein.

Als wir eine Woche später das Goetheanum besichtigen, hören wir eine Menge über Metamorphosen. Die Verwandlung und Veränderung ist ja grosses Thema bei Goethe und bei Steiner. Auch der Bau im Ganzen drückt in seiner organischen Gestaltung diese Wandlungsmöglichkeiten aus. „Metamorphose“, sagt Günter, „ich kaufe mir morgen so ein blaugestreiftes Hemd.“

Hallo? Warum sehen wir Veränderung nur noch äusserlich? Und nicht mehr politisch wie Brecht, religiös wie Hesse  und spirituell wie Steiner?
Zugegeben:
In keinem Jahrhundert war die Möglichkeit zur Veränderung so gross. Man kann die Haare nicht nur blond, schwarz oder mit Henna färben, man kann sich z.B. einen grasgrünen Hahnenkamm um pissgelbe Stoppeln stehen lassen, aus dem rote Strähnchen quellen. Und ist dann nicht einmal besonders innovativ.
Stellt man dann fest, dass Ohren, Nase, Kinn und Teint zur Frisur nicht passen: Es ist jede Art von Glätten, Heben, jedes Aussaugen, Aufspritzen und  Unterhobeln möglich, zur Not gibt es Botox, Liften, Peeling und Abfräsen. Die Nase wird stumpfer, die Ohren spitzer, das Kinn mehr melonenförmig und der Teint wieder jung und schön.
Ist man gerade am Saugen, kann man auch ein wenig Fett absaugen, das, das bei den Apfel-, Birnen-, Nudel-, Sprudel  und Pudeldiäten nicht weggegangen ist. Ist die Taille dann immer noch zu breit für XXXS (bietet A&F wirklich an!), dann sollte man sich die Hüfte verkleinern lassen, eine nur  achtstündige Operation, die nur selten zum Verlust der Lauffähigkeit führt. (Cher kann immer noch stolzieren!)
Wenn man dann schon am Knochen sägen, am Teilen und Einschieben ist, ändert man noch die Grösse, kleiner, riesiger, alles von 1,54 m bis 2,13 m ist möglich. 
Insofern wird der Begriff Unveränderliche Kennzeichen, den wir in Personalausweisen finden, zum Problem: Unveränderlich ist  eben die Grösse nicht mehr, und auch die Augenfarbe ist es keineswegs. Ein Französischer Arzt lasert Ihnen seit einiger Zeit rote, blaue, grüne oder pinke Augen. Was das soll, da es ja auch farbige Kontaktlinsen gibt, weiss niemand, aber er kann sich vor Zulauf nicht retten.
Unveränderliche Kennzeichen gibt es also optisch nicht mehr, nur noch der Geburtsort und das Geburtsdatum bleiben Ihnen als Anker in der Zeit.
Wenn Sie nun mit rot-gelben Haaren, angelegten Ohren und geplätteter Nase, wenn Sie mit grünen Augen, spitzerem Kinn  und gebotoxtem Teint in ihrer Wohnung stehen und in den Spiegel schauen, aus dem Ihnen ein mageres Wesen in A&F-XXXS (dank halb so grosser Hüfte) entgegengrinst. Wenn Sie sich dann überhaupt nicht mehr wiedererkennen, dann sollten Sie sich doch überlegen, was mit Veränderung gemeint sein könnte.
Die Geschichten von Herrn Keuner, Stufen und die Herren Goethe und Steiner könnte man doch so auslegen:
Was nutzt die neue Augenfarbe, wenn du eigentlich ausser deinen SMS nichts siehst?
Was nützt die neue Hünenform, wenn du der alte Giftzwerg bleibst?
Was nützt die XXXS-Grösse, wenn trotzdem von dir immer noch zu viel da ist?

Ab heute vielleicht einmal ein wenig denken, der IQ gehört übrigens auch zu den Unveränderlichen Merkmalen.
Einfach mal anfangen, ein wenig zu denken.
Denn jedem Anfang liegt ein Zauber inne

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