Freitag, 21. Februar 2014

Trudi sucht sich ihre Rolle

Trudi Bauschiger hat sich auf ihren neuen Job vorbereitet: Sie hat das Organigramm der Firma, deren Website, Facebookaccount und Twittereinträge studiert, sie hat wichtige Dossiers und Protokolle der letzten Jahre gelesen. Wichtiger: Sie war bei der Maniküre und beim Coiffeur, nebenbei hat sie sich in einer Riesenkaufaktion mit 20 kg Businessklamotten eingedeckt.
Das Wichtigste aber ist, dass Trudi sich eine Rollenliste gemacht hat: Welche Positionen sind bei der FUNAMAG durch wen besetzt und welche sind noch frei? Sie wird an ihren ersten Arbeitstagen genau beobachten und abhaken.
Als sie das Büro betritt, kommt ein junger Mann auf sie zu, schenkt ihr sein schönstes Lächeln, reicht ihr die Hand und strahlt: „Du musst Trudi sein, ich bin der Jan.“ Innerlich hakt sie den Sonnyboy ab und als der andere Mann im Raum beginnt: „Hihihihi, kennt ihr den, hihihihi, kommt eine Frau in die neue Firma…“ auch den Clown.
Auch das Enfant terrible lässt nicht lange auf sich warten, als sich Marco anlässlich der Zehn-Uhr-latte-macchiato-Pause in der Kaffeeküche trotz strengstem Rauchverbot eine Selbstgedrehte ansteckt. „Maaarco, gehen wir doch raus, ich rauche dann auch eine mit“, haucht Anna mit lasziver Stimme, wirft ihre Haare nach hinten, wobei der sich vorstreckende Körper einen Einblick in ihr makelloses Dekolleté ermöglicht. Trudi macht bei der Femme fatale ein Kreuzchen.
Weitere Häkchen kann sie erst am nächsten Tag malen: Frau Sütterlin hat an Trudis Platz eine Willkommensschoggi gelegt: Gute Seele. Adrian schüttelt bei jeder Bemerkung des Chefs den Kopf: Nein-Sager. Und als Gritti auf einmal zum Boss sagt: „Ich checke ja nicht viel, aber du hast die Kopenhagen-Sache wirklich versaut?“ kann Trudi auch den Hofnarr als vorhanden abhaken.
Erstaunlich ist, dass die Rolle der Mama durch einen Mann belegt wird, Herrn Müller, der Trudi schon am dritten Tag ermahnt, doch nicht ohne Schal in die Lunchpause zu gehen, sie könne sich doch erkälten.
Als Trudi am Ende der Woche die Häkchen anschaut, wird ihr ein bisschen komisch zumute: Fast alle Posten sind schon besetzt. Laut ihrer Liste, die ja - seien wir ehrlich - nicht ihre Liste ist, sondern dem bahnbrechenden Werk Hiebchen, Z.: Rollenpositionen in der Businesswelt, Detmold 2005 entnommen ist, fehlen bei der FUNAMAG nur noch drei Rollen: Der Klugscheisser, das wandelnde Lexikon und die Kassandra.
Den Klugscheisser definiert Hiebchen als denjenigen, der in jeder Situation eine Info anbringen muss, die einer anderen, vorigen Info widerspricht, von ihm unterscheidet sich das wandelnde Lexikon dadurch, dass es seine Informationen nie eigenwillig in die Runde wirft, ausserdem ohne den Drang zum Widerspruch, das wandelnde Lexikon hält Fakten zu jedem beliebigen Thema auf Abruf parat. Die Kassandra ist die Rolle, die konsequent alles schwarz sieht und dies auch laut äussert.
Trudi entscheidet sich für die Kassandra.
Beim nächsten Meeting hört man plötzlich von ihr: "Der Zeitplan für die Amsterdam-Sache kommt mir doch sehr knapp vor, in einer Woche schon Strategieplan auf dem Tisch; also ich sehe da schwarz."
Schon bald hängt ihr der Name Schwarzseher-Trudi an, sie ist immer die, die nörgelt, nölt, alles anzeifelt, die, die Katastrophen und Untergänge ahnt. Aber wer jetzt denkt, dass dies ihrer Beliebtheit einen Abbruch tut, täuscht sich: 
Seit langem hat sich das Team der FUNAMAG nicht so komplett, rund und wohl gefühlt.

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