Freitag, 17. Januar 2014

Duineser Deutschnote


Heute ist Semesterwechsel im Baselland. 
Das heisst auch, heute endet die Rekursfrist und die Zeugnisse sind gültig.
Und auch wenn die Eltern nicht rekursiert haben, sind doch viele Schülerinnen und Schüler mit der Benotung, Bewertung, Beurteilung nicht einverstanden. All das ist ja auch alles schrecklich subjektiv.

Im Deutschen Literaturarchiv in Marbach fand ich neulich die Beurteilung eines Textes, den ein junger Schriftsteller seinem Deutschlehrer abgegeben hatte. Die in ihrer Klarheit und Schärfe einmalige Bewertung verdient es, hier abgedruckt – kann man das bei einem Blog überhaupt sagen? – zu werden.

Lieber Rainer,

danke für deinen Text. Ich habe ihn mit Interesse gelesen, muss dir aber mitteilen, dass ich zu keiner guten Note kommen kann. Du hattest die Aufgabe, einen Aufsatz über das Thema „Die Militärkolonne“ zu schreiben. Natürlich ging ich davon aus, dass du entweder über die Deutsche Wehrmacht schreibst, im Sinne eines Ruhmliedes über diese unsere glorreiche Truppe, oder über ein feindliches Heer und seine Übel- und Gruseltaten. Du verlegst die Handlung – hat dein Geschreibe überhaupt eine richtige Handlung? – in die Zeit der Türkenkriege, gut, das könnte man noch dulden. Was nicht tolerierbar ist, ist die Form. Entweder ist ein Text ein Gedicht, dann hat es Verse, oder eine Erzählung, dann wird fortlaufend geschrieben. Habe ich euch das nicht hundertmal gesagt? Du machst eine Zwischensache, die nicht geht.
Ebenso hundertmal habe ich dir und deinen Klassenkameraden gewisse Grundregeln eingebläut, die du alle über den Haufen wirfst:
Keine Wörter wiederholen!
Sätze gut verbinden! (Haupt- und Nebensätze!)
Passende Adjektive suchen!
Und dann lese ich so etwas:
Reiten. Reiten. Reiten.
Durch den Tag. Durch die Nacht. Durch den Tag.
Reiten. Reiten. Reiten.
Und der Mut ist so müde geworden und die Sehnsucht so gross.
Rainer, das sind sechsmal „Reiten“, dann dreimal der gleiche Satz in der Mitte, gar keine Sätze und erst recht nicht verbunden! Das geht einfach nicht.
Und der „müde Mut“? Der Mut wird doch nicht müde, der Reiter wird müde, vielleicht könntest  du noch schreiben, dass das Pferd müde wird, meinetwegen.
Es geht dann gerade so weiter, aber auf eine Sache muss ich auch noch zu sprechen kommen: Dein Text ist in einem Masse schwülstig, das mich erschreckt.
…und einmal wieder so: Wie nach dem Bade sein…
…die Turmstube ist dunkel, aber sie leuchten sich ins Gesicht mit ihrem Lächeln…
Das ist Kitsch, junger Herr, übelster Kitsch! Und mit diesem Kitsch geht eine so starke Verherrlichung von Liebe und Feiern gegenüber dem eigentlichen Zweck der Soldaten einher, dass dein Aufsatz, eine morbide, schwächende, ja wehrzersetzende Wirkung haben könnte. Ich hoffe, du hast ihn keinem Kollegen gezeigt.
 Rainer, du hast einmal erwähnt, Schriftsteller werden zu wollen. Ich kann dir nur raten: Lass es sein!
Vernichte diesen Text und schreibe nie wieder eine Zeile.
  
Dr. Hasso Hassmann

Zum Glück für uns hat sich Rainer Maria Rilke nicht daran gehalten. Und sein Text (Die Weise von Liebe und Tod), einer der grossartigsten der deutschen Literatur, blieb erhalten.
Aber urteilen wir nicht über den Lehrer. Ich glaube jeder Deutschlehrer wird verzweifeln, wenn er mit seinem bewährten Kriterienkatalog an einen Text von z.B. Jelinek herangeht. 

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