Montag, 23. Dezember 2013

Wir wollen doch heute nicht über Politik reden


„Wir wollen doch heute nicht über Politik reden…“

Die Oma lächelt dich an und schaufelt dir noch eine Ladung Gans, drei Kellen Rotkohl und zehn Kroketten auf den Teller, denn sie weiss, wenn du isst, kannst du nichts sagen.

„Wir wollen doch heute nicht über Politik reden…“

Die Tante hebt beschwichtigend die Hände, nippt an ihrem Rotwein und giesst ihr Lächeln aus, ihr Lächeln, das schon drei Önkel ins Grab gebracht hat.

„Wir wollen doch heute nicht über Politik reden…“

Ich glaube, nach „Kinder, was haben wir es wieder gemütlich“ und „ich platze gleich“ ist dieser Satz der dritthäufigste an diesem Tag, den wir heute feiern, Weihnachten, das Fest der Liebe und des Friedens. Und einmal im Jahr will man doch auch Frieden in der Runde haben, will nicht, dass Heinz seinen Schwager Ruedi als „vaterlandslosen Multikulti-Depp“ beschimpft und umgekehrt Ruedi Schwager Heinz als „neofaschistischen Fremdenfeind.“ Einmal im Jahr will man doch Liebe und Harmonie erleben, und da stört es ganz gewaltig, wenn Tante Isabelle für vier neue Grossflughäfen in der Innerschweiz plädiert und gleichzeitig ihre Nichte Caroline die Kantone Uri, Schwyz, Unterwalden, Glarus und Appenzell komplett unter Naturschutz stellen will. Einmal im Jahr sollen doch bitte die Abstimmungsvorlagen und Referenden draussen bleiben.

„Wir wollen doch heute nicht über Politik…“

Wobei sich die Frage stellt, über was man dann reden soll. Was kann gesagt, gemeint, gedacht werden, was kann in die Runde geworfen und im Raum stehen bleiben, was kann geäussert, gemurmelt, verkündet werden, das nicht über kurz oder lang zu Debatten führt? Das Wetter? Da kann doch Greenpeacler Urs sofort wieder zum CO2 kommen und eine Klimaschutzdiskussion vom Zaun brechen. Die Wehwehchen, von denen Tante, Gross- und Urgrosstante ja genug haben? Da ist man doch auch sofort bei der Gesundheitspolitik, der Pharmalobby und der Förderung von Naturheilverfahren, ein Themenkreis, bei dem Grossnichte Bianca Shihuna (ihr Sannyasin-Name heisst so viel wie „die Wundenschliesserin“) sehr schrill werden kann. Es gibt praktisch gar kein Thema, das nicht irgendwie in einen Grosszusammenhang gestellt werden könnte.

„Wir wollen doch heute nicht über…“

Und was bedeutet es denn, wenn Weihnachten das Fest der Liebe und des Friedens ist? Bedeutet es nicht gerade, dass man auch an die denkt, die keinen Frieden und keine Liebe erleben? Wo ist Frieden und Liebe in Ländern, in denen Volksgruppen, Machthaber, Demonstranten, Soldaten, Polizisten und Studenten auf einander losgehen? Und was ist mit Kindern, die in einem Land ohne Krieg zwar von der ganzen Familie geliebt werden, aber schlicht und einfach verhungern? Ist das nicht aber schon wieder eine ungeheuer politische Aussage? Vor allem, wenn man bedenkt, dass wir ja nicht auf einem einsamen Stern leben, sondern irgendwie mit drin hängen?

„Wir wollen doch heute nicht über Politik reden…“

Jetzt bist du mal ruhig, Tante Eusebia. Wir reden heute über Politik! Den ganzen Abend! Ein sinnvolles Weihnachtsgeschenk könnte hier sogar ein Moderator sein. Denn vielleicht kann Fest der Liebe und des Friedens ja auch bedeuten, dass man über Politik redet, aber fair, zuhörend, verstehend, eben mit Liebe, die man ja auch als Achtung übersetzen kann und eben mit Frieden, ohne Fäuste, Beleidigungen und Angriffe.
Und möglicherweise merkt man an diesem Heiligen Abend, dass die Wahrheit sehr häufig in der Mitte liegt: Da kapieren Heinz und Ruedi, dass die Position „Lasst die ganze Welt kommen, Platz ist genug da, und damit sich alle wohlfühlen, bauen wir Reis und Maniok an und lernen Türkisch und Xhosa.“ genauso blödsinnig ist wie „Wir schmeissen alle raus, deren Vorfahren nicht beim Rütlischwur dabei waren.“ Da checken Isabelle und Caroline, dass ein Ausbau von Kloten eventuell unvermeidlich ist, und dafür müssen dann auch ein paar Bäume gefällt werden, dass aber umgekehrt die Flughäfen Altdorf, Stans und Sarnen Schnapsideen sind, die nur den Bauunternehmern nützen.
Und wenn so etwas passiert, dann hat das Fest der Liebe und des Friedens doch seinen Namen verdient.

„Wir wollen heute über Politik reden.“

 

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