„Wir wollen doch heute nicht über Politik reden…“
Die Oma lächelt dich an und schaufelt dir noch eine Ladung
Gans, drei Kellen Rotkohl und zehn Kroketten auf den Teller, denn sie weiss,
wenn du isst, kannst du nichts sagen.
„Wir wollen doch heute nicht über Politik reden…“
Die Tante hebt beschwichtigend die Hände, nippt an ihrem
Rotwein und giesst ihr Lächeln aus, ihr Lächeln, das schon drei Önkel ins Grab
gebracht hat.
„Wir wollen doch heute nicht über Politik reden…“
Ich glaube, nach „Kinder, was haben wir es wieder gemütlich“
und „ich platze gleich“ ist dieser Satz der dritthäufigste an diesem Tag, den
wir heute feiern, Weihnachten, das Fest der Liebe und des Friedens. Und einmal
im Jahr will man doch auch Frieden in der Runde haben, will nicht, dass Heinz
seinen Schwager Ruedi als „vaterlandslosen Multikulti-Depp“ beschimpft und
umgekehrt Ruedi Schwager Heinz als „neofaschistischen Fremdenfeind.“ Einmal im
Jahr will man doch Liebe und Harmonie erleben, und da stört es ganz gewaltig,
wenn Tante Isabelle für vier neue Grossflughäfen in der Innerschweiz plädiert und
gleichzeitig ihre Nichte Caroline die Kantone Uri, Schwyz, Unterwalden, Glarus
und Appenzell komplett unter Naturschutz stellen will. Einmal im Jahr sollen
doch bitte die Abstimmungsvorlagen und Referenden draussen bleiben.
„Wir wollen doch heute nicht über Politik…“
Wobei sich die Frage stellt, über was man dann reden soll.
Was kann gesagt, gemeint, gedacht werden, was kann in die Runde geworfen und im
Raum stehen bleiben, was kann geäussert, gemurmelt, verkündet werden, das nicht
über kurz oder lang zu Debatten führt? Das Wetter? Da kann doch Greenpeacler
Urs sofort wieder zum CO2 kommen und eine Klimaschutzdiskussion vom
Zaun brechen. Die Wehwehchen, von denen Tante, Gross- und Urgrosstante ja genug
haben? Da ist man doch auch sofort bei der Gesundheitspolitik, der Pharmalobby
und der Förderung von Naturheilverfahren, ein Themenkreis, bei dem Grossnichte
Bianca Shihuna (ihr Sannyasin-Name heisst so viel wie „die Wundenschliesserin“)
sehr schrill werden kann. Es gibt praktisch gar kein Thema, das nicht irgendwie
in einen Grosszusammenhang gestellt werden könnte.
„Wir wollen doch heute nicht über…“
Und was bedeutet es denn, wenn Weihnachten das Fest der
Liebe und des Friedens ist? Bedeutet es nicht gerade, dass man auch an die
denkt, die keinen Frieden und keine Liebe erleben? Wo ist Frieden und Liebe in
Ländern, in denen Volksgruppen, Machthaber, Demonstranten, Soldaten, Polizisten
und Studenten auf einander losgehen? Und was ist mit Kindern, die in einem Land
ohne Krieg zwar von der ganzen Familie geliebt werden, aber schlicht und
einfach verhungern? Ist das nicht aber schon wieder eine ungeheuer politische
Aussage? Vor allem, wenn man bedenkt, dass wir ja nicht auf einem einsamen
Stern leben, sondern irgendwie mit drin hängen?
„Wir wollen doch heute nicht über Politik reden…“
Jetzt bist du mal ruhig, Tante Eusebia. Wir reden heute über
Politik! Den ganzen Abend! Ein sinnvolles Weihnachtsgeschenk könnte hier sogar
ein Moderator sein. Denn vielleicht kann Fest der Liebe und des Friedens ja
auch bedeuten, dass man über Politik redet, aber fair, zuhörend, verstehend,
eben mit Liebe, die man ja auch als Achtung übersetzen kann und eben mit
Frieden, ohne Fäuste, Beleidigungen und Angriffe.
Und möglicherweise merkt man an diesem Heiligen Abend, dass
die Wahrheit sehr häufig in der Mitte liegt: Da kapieren Heinz und Ruedi, dass
die Position „Lasst die ganze Welt kommen, Platz ist genug da, und damit sich
alle wohlfühlen, bauen wir Reis und Maniok an und lernen Türkisch und Xhosa.“
genauso blödsinnig ist wie „Wir schmeissen alle raus, deren Vorfahren nicht
beim Rütlischwur dabei waren.“ Da checken Isabelle und Caroline, dass ein
Ausbau von Kloten eventuell unvermeidlich ist, und dafür müssen dann auch ein
paar Bäume gefällt werden, dass aber umgekehrt die Flughäfen Altdorf, Stans und
Sarnen Schnapsideen sind, die nur den Bauunternehmern nützen. Und wenn so etwas passiert, dann hat das Fest der Liebe und des Friedens doch seinen Namen verdient.
„Wir wollen heute über Politik reden.“
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen