Montag, 7. Oktober 2013

Frau R. auf der Insel der Seligen (Ämter II)

Einige fanden meinen Post vom Freitag zu zynisch und zu weit hergeholt. Nun gut, hier eine wirklich wahre Geschichte. Da die Frau existiert(e?) muss ich sie in Frau R. abkürzen. Wer in den Achtzigern und Neunzigern in Freiburg Schulmusik studiert hat, wird sie kennen.

Im Januar 1992 erhielt ich einen Anruf von Frau R. Sie war zuständig für die Staatsexamina der Schulmusiker (Landeslehrerprüfungsamt) und ich hatte, nachdem ich 1991 mein 1. Staatsexamen in Musik gemacht hatte, nun meine Scheine und meinen Bogen für das 2.Fach Latein eingereicht. Ich erwartete von ihr einen Prüfungstermin, aber sie teilte mir mit, dass sie noch Unterlagen bräuchte, und zwar die Geburtsurkunde und das Abizeugnis. Auf meinen Hinweis, das hätte ich doch vor einem halben Jahr geschickt, seufzte sie in hoher Lage: "Aber des gibt doch e neue Aggte, des muss au alles beglaubigt sei." Ich akzeptierte murrend den Sachverhalt, dass nicht Prüflinge, sondern Fächer Akten haben, fragte dann aber unverschämt, ob sie nicht einfach zwei Kopien machen und diese dann selbst beglaubigen könne. Dann kam der Satz, der mir bis heute in den Ohren klingt und der mich (!) sprachlos machte: "Dafir habb ich doch kei Zeit¨"
Ich sah sie vor mir, in ihrem makellos aufgeräumten Büro, an ihrem makellosen Schreibtisch, in dem Stockwerk hoch über den Dächern von Freiburg, dieser Insel der Seligen, ich hatte sie einmal dort aufgesucht, war zu früh gewesen und hatte eine halbe Stunde lang die Stille genossen, die durch kein Telefon, keine Besucher gestört wurde, dunkle Etage, wässriges Licht und das Gefühl, sich in einem Aquarium zu befinden. Ich war auf 15.00 bestellt (Frau R. war nur auf Termin zu sprechen), aber schon um 14.30 da gewesen. Um Viertel vor drei schwebte Frau R. durch den Raum, eine Kaffeetasse in der Hand, sah mich und sagte: "Sie sin z'früh. Ich muss no die Aggte raussuche." Die nächsten 15 Minuten überlegte ich, wie lange das wohl brauchen könne, man muss dazu sagen, dass Frau R. die Schulmusiker von Freiburg und Trossingen betreute, dort fingen in jedem Semester ca. 20 Leute an, da aber längst nicht alle durchhielten, auf Singen, Rhythmik, Dirigieren oder MuWi umstiegen, war es eine sehr, sehr überschaubare Zahl und Frau R. war ja nur für die Staatsprüfungen, nicht für die Uniprüfungen beamtet. Ich hätte die "Aggte" also in 15 Sekunden gefunden, es sei denn sie hätte hinter einem Blumentopf gestanden, aber dafür war Frau R. viel zu aufgeräumt.
Wie also konnte eine Person, die so wenig Klientel und eine so abgegrenzte Aufgabe hatte, zu wenig Zeit haben?
Ich stellte am Telefon jetzt die Frage, wer denn nun meine Dokumente beglaubigen könnte. Die Antwort kam in hoher Stimme, pistolenschussartig und kräftig: "D'Seggreterin vo dr Musikhochschul." Und wieder sah mein inneres Auge, diesmal sah es unsere Frau Schmidt, wuselnd zwischen drei Telefonen, ihrem Schreibtisch, dem Fotokopierer und vierzehn Studenten, Frau Schmidt, die gute Seele der MuHo, eine Klassefrau, Gretel Dampf in allen Gassen, eine Multitaskerin der ersten Stunde. Im Studentensekretariat war immer die Hölle los, lärmende Klientel, Berge von Papier und das Gefühl, sich in einem Affenkäfig zu befinden.
Als ich am nächsten Tag dort vorstellig wurde, lachte Frau Schmidt ihr bekanntes, dröhnendes Lachen: "Frau R.? Natürlich hat die keine Zeit, aber ich, ich hab immer Zeit, geben sie her." Im Stillen glaubte ich aber, dass Frau Schmidt auf der Insel der Seligen an Langeweile gestorben wäre.
Fakt ist auf jeden Fall, dass nach einem Shutdown im LaLePrüAmt Köpfe gerollt wären - und dass Frau Schmidt zwei weitere Sekretärinnen zur Seite bekommen hätte, vielleicht Frau R., die hätte sich dann sehr, sehr umgewöhnen müssen.

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