Dienstag, 22. Oktober 2013

Man flucht nicht, es sei denn...


Ich sitze im ICE und sehe mir ein Klavierstück an, Impromptus H-Dur op.45/2 von Michel Boullain (1845-1901), ein sehr melodiöses und ansprechendes Stück, ideal für ein Intermezzo in einem Chorkonzert, aber auch für ein Soloprogramm. Die Musik ist schwebend und heiter, die Harmonik schlicht, aber raffiniert, aber das Wichtigste: Das Ganze ist spielbar! Bis auf die Takte 56-60, hier läuft die linke Hand in Undezimen (für Nichtpianisten: das ist zwei Töne mehr als die Oktave, die Hand muss vor dem Spielen auf die Streckbank), die rechte hüpft wie eine Heuschrecke auf der Tastatur herum. Als diese Stelle in mein Blickfeld gerät, entfährt mir:

Ich kann die hässlichen Ausdrücke hier nicht hinschreiben, stellen Sie sich einfach eine Faust, eine Wolke und einen Blitz vor. Und darunter den Satz: Alte gallische Schimpfwörter.
Die Dame gegenüber schaut mich entgeistert an: „Wie können Sie nur, Sie beschäftigen sich mit Kulturgut, mit einer hehren Sache und fluchen hier herum wie ein Kanalarbeiter.“ Ich schlucke die Entgegnung hinunter, dass gerade unsere grossen Tondichter die schlimmsten Flucher, dass sie oft weder hehr noch heilig, sondern furchtbar ordinär waren. Mozart schreibt in einem Brief, dass er auf den Vorwurf der Schwester hin, er habe einen fahren lassen, die Probe aufs Exemplum gemacht und den Finger in den Arsch gestecket habe, Wagner konnte toben und schimpfen, wenn er seinen Willen nicht bekam und Richard Strauss übergoss sein Orchester mit derbsten bayrischen Kraftausdrücken, wenn er Schlendrian oder Schlamperei witterte. Johannes Brahms verliess eine Soiree mit den Worten: „Wenn ich jemand zu beleidigen vergessen habe, bitte ich um Verzeihung.“
All das sage ich der guten Frau nicht, sondern entschuldige mich höflich und wende mich wieder meinem Impromptus zu.
Da schallt es nach zwei Minuten von einer der hinteren Reihen:
„Wieso speicherst du jetzt nicht? Ich muss runterfahren!“

Denken Sie sich jetzt Mittelfinger, nackter Hintern und Totenkopf und den Satz darunter: Viel schlimmere alte gallische Schimpfwörter.
Die Dame zeigt keine Reaktion, ungerührt stickt sie weiter an ihrem Deckchen. „Nun“, sage ich, „das waren nun doch noch viel schlimmere Wörter als meine.“ „Ja“, meint die Lady, „aber der Mann arbeitet am Computer.“ Ob es denn normal sei, oder anders formuliert ok, also legitimiert sei, bei der Arbeit am PC zu fluchen, will ich wissen. „Selbstverständlich, der Computer kann einen ja schon aufregen.“
Ich muss mich damit abfinden, dass beim Fluchen mit zweierlei Mass gemessen wird. Aber vielleicht ist das gar nicht so unerklärlich.
Denn einerseits ist Fluchen hässlich und unschön, weil wir Wörter benutzen, die der Fäkal- oder Sexualwortfeld entstammen und teilweise sehr eklige Dinge beschreiben. Andererseits muss der Mensch gelegentlich Dampf ablassen, um nicht zu platzen, manchmal muss man aus der Haut fahren, um sich nachher wieder wohl in der Haut zu fühlen. Und so regelt der gesellschaftliche Konsens die Sache auf elegante Art:
Man darf nicht fluchen,
*es sei denn, man fährt Auto
Hinter dem Steuer wird der Mensch, selbst der friedlichste, zum Tier. Ich bin immer wieder erstaunt, zu welchen verbalen Entgleisungen eine Person fähig ist, wenn sie in Blech verpackt über den Asphalt rollt. Es sind aber auch immer die anderen, die so ungeschickt und dämlich fahren, da kann einem der Kragen schon einmal platzen.
*es sei denn, er befindet sich auf einem Bahnhof
Wer eben von der Anzeigetafel erfahren hat, dass sein Zug 45 Minuten Verspätung, den Wagen mit seinem reservierten Platz aber eben nicht hat, der darf fluchen, laut und heftig.
*es sei denn, man guckt Fussball
Schimpfen gehört zum Sport wie Chips und Bier. Es ist ja auch zum Verzweifeln, dass der saudumme Torwart diesen Ball, den jeder, jeder hier im Raum anwesende Mensch mühelos, sozusagen mit dem kleinen Finger gehalten hätte.
*es sei denn, man arbeitet am Computer.
Dass es völlig sinnlos ist, eine Maschine anzuschreien, als Schweinebacke, Hurensohn oder Drecksding zu bezeichnen, spielt hier keine Rolle. Und seien wir ehrlich: Wir haben es alle schon gemacht.
Und jetzt habe ich die Lösung für mein Problem: Ich speichere in Zukunft meine Noten elektronisch, dann sitze ich beim Studieren vor dem Laptop. Und kann, wenn Komponisten sich Passagen ausdenken, die wirklich keiner spielen kann, fluchen.
Hemmungslos.
Laut.
Unter allen Gürtellinien.
Aber gesellschaftlich erlaubt.

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