Donnerstag, 8. August 2013

Wir alle sind gedopt

Reto ist Geiger und hat es geschafft: Er hat eine Tuttistelle im Tonhalleorchester Zürich bekommen. Gegen alle russische, koreanische und japanische Konkurrenz. Als er den Probenplan bekommt, schluckt er erst einmal trocken: Das erste Konzert beginnt mit der Ouverture zur Verkauften Braut, das ist - für die Laien - so ein bisschen eine Bergetappe der Sinfonischen Literatur. Zu allem Übel wird Reto von Pultnachbar zu Pultnachbar weitergereicht, dass jede und jeder beurteilen kann, ob der Bub die Töne trifft. Die erste Probe übersteht der junge Mann schweissüberströmt, dann merkt er, dass das nicht eine Woche so geht. Reto geht zur Apotheke und kauft Beta-Blocker, die zwar das künstlerische Empfinden lähmen, aber einen total nervenstark machen, und um Kunst geht es für ihn ja nicht, vor allem um präzises Spiel.
Urs ist freier Grafiker und hat es geschafft: Die ZUMDAG hat das Komplettpaket bei ihm bestellt: Neues Logo, neuer Flyer, Internetauftritt, Briefunterlagen usw. Leider brauchte es lange, bis Dr.Stimpfli, sein Ansprechpartner bei der ZUMDAG grünes Licht gab, und dann war Urs eine Woche krank. Nun ist in drei Tagen Abgabetermin. Die erste Nachtschicht geht mit Kaffee, die zweite mit Tee, für die dritte greift Urs nun doch auf das zurück, was viele ihm empfohlen haben: Er zieht sich eine Linie. Nach 10 Minuten fliegen seine Finger wie Wespen über die Tastatur, er ist wie in einem Rausch, er malt, grafikt, speichert, kopiert, er ist völlig hin und weg und zum Abgabetermin fertig. Mit der Arbeit und er auch. Er mailt an Stimpfli und bricht für drei Tage zusammen.
Hans-Ruedi ist Lehrer und hat es nicht geschafft, zumindest nicht letztes Schuljahr. Seine Klasse ging nicht nur über Tisch und Bänke, sondern auch aus dem Fenster und auf einander los. Nun ist am Montag Schulbeginn und Hans-Ruedi hat sich eingedeckt: Literatur, Büromaterial und Valium. Jetzt kann seine Klasse lärmen, es wird ihm nicht mehr so an die Nieren gehen, weil er es leiser hört. Alles wird so ein wenig wie in Watte gepackt sein, der Alltag wird flauschig und weich: Teacher's Little Helpers.
Was ich damit sagen will?
Wir alle sind gedopt, wir rennen die Arztpraxen ein, wir verlangen Aufheller, Abdämpfer, Aufputscher, wir schlucken Valium, Librium, Alpha-, Beta- und Omegablocker, wir schlucken uns in den Schlaf und in den Tag, wir inhalieren, spritzen und reiben, wir sind auf Vitamin X und Spurenelement Y. Wir sind ohne Substanzen nicht mehr lebensfähig.
Und da mokieren wir uns über die Sportler?
Wenn so viele Leute ihren Berufsalltag ohne Mother's Little Helpers nicht mehr schaffen, wie sollen dann Leistungssportler 100m in zwei Sekunden rennen?
Wenn ständig Menschen in Situationen gebracht werden, in denen sie versagen müssten, wie geht es dann noch ohne leistungssteigernde Substanzen?
Die Lösung für die Misere wäre einzig, dass Menschen zugeben können: "Ich bin überfordert." und wir diese Aussage hinnehmen. Die Lösung wäre, dass wir Perfektion bei uns verlangen, aber Nichtperfektes bei anderen hinnehmen.
Wir alle sind gedopt! Ich übrigens auch, wie alle grossen Dichter greife ich zum klassischen Dope der Künstler: Alkohol. Aber während Kollegen da kreativer waren - Schiller hatte faule Äpfel in der Schublade und die Symbolisten waren sämtlich Absintheure, - benutze ich einfach Weisswein (oder Rouge im Winter)
Ich hoffe, dass keine Dopingkontrollen für Blogger eingeführt werden. Das wäre blöd.

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