Donnerstag, 15. August 2013

Ich will wieder trotzen


Der kleine Bub im Supermarkt bleibt vor der Eistruhe stehen. Es will jetzt noch ein Magnum mit Rosinen. Die Argumente der Mutter, dass sie in 15 Minuten Mittag ässen, dass es heute schon ein Eis gehabt habe, dass sie jetzt an die Kasse gingen, und so weiter, prallen an dem Kind ab wie Kugeln an einem Panzer. Es will in diesem Moment dieses Eis und wird es mit allen Mitteln durchsetzen. Es greift in die Truhe und hält die Beute fest in der Hand. Die Freiheitsstatue trägt ihre Fackel nicht fester. Als es der Mama dann doch gelingt die Faust aufzubrechen und das Magnum wieder zurückzulegen, fängt das Kind an zu schreien. Ohrenbetäubend. Um dem Ganzen noch mehr Gewicht zu verleihen, wirft es sich noch auf den Boden und nebenbei mit ein paar Dosen. Die Mutter bleibt hart und schleift das inzwischen vor Rotz und Tränen triefende Bündel zur Kasse.
Trotzphase.
Wobei mir gerade die Idee kommt, ob es nicht Rotzphase heissen müsste, wenn ich den Kleinen so anschaue.
An der Kasse tröste ich die Mutter. Meiner Ansicht nach ist die Summe aller Krisen im Leben gleich, das heisst: Wenn man gut trotzt, ist die Pubertät nicht so schlimm; hat man beides nicht ausgelebt, kommt eine richtig eklige Midlife-Crisis. Und hat der Mensch auch diese Rebellion ausgelassen, kommt er Altersstarrsinn. Dann will Opa auch wieder ein Eis, obwohl sein kranker Magen das überhaupt nicht verträgt. Und er wird es stur fordern. Oder Grossvater will seine Marschplatte – wie Opa Hoppenstedt. „Wissen Sie“, sage ich der Mutter, „bei mir war es so. Die Pubertät war harmlos und die Mittellebenskrise fand nicht statt, aber getrotzt habe ich richtig. An jeder Kasse und an jeder roten Ampel. Ich bin meinen Eltern bis heute dankbar, dass sie mich nicht zur Adoption freigegeben haben – oder einfach zum Fenster rausgeworfen.“
Die Frau bedankt sich für mein Verständnis und meine tröstenden Worte. Und verlässt mit ihrem nicht mehr schreienden, aber noch zitternden und bebenden Fritzchen den Laden.
Und plötzlich..
Plötzlich…
Plötzlich beneide ich den Kleinen ganz stark.
Ich will auch wieder trotzen. Ich will mich auch wieder auf den Boden schmeissen und mit den Fäusten auf das Parkett trommeln. Wenn ich mit der Dummheit, der Borniertheit und Falschheit der Welt, mit der Lüge und Schummelei konfrontiert bin, möchte ich auch wieder schreien dürfen und Rotz und Wasser heulen.
Wenn der Verkäufer im Buchsupermarkt behauptet, die Marquise von O. gebe es nicht bei Reclam, nur bei dtv, würde ich gerne anfangen mit Taschenbüchern zu werfen und mit gequetschter Stimme losbrüllen:
„Ich wi-i-ill es aber von Re-e-ecla-a-am!!!! Ree-e-e-clam! Buhuhuhu!“
Entweder holt der Verkäufer die Männer mit der Zwangsjacke oder er schaut noch einmal nach und findet natürlich den gewünschten Text vom gewünschten Verlag – mit Anmerkungen und Werkgeschichte.
Wenn der Beamte am Fahrkartenschalter verkündet, von Leipzig nach Aachen ginge nur über Frankfurt, möchte ich mit dem Fuss aufstampfen und schrill losflennen:
„I-i-i-i-ch wi-i-i-i-ll ü-ü-ü-b-er Ma-a-a-agde-e-e-e- burg!!!!!!!!!!!!!!“
Entweder kommt die Polizei oder man findet doch das Verlangte, samstags sogar in Gestalt eines durchgehenden ICs.
Manch einem Politiker, der sagt, dass
*die Renten sicher sind
*das neue Schwimmbad nur 2 Millionen kostet
*er von der Sache XYX keine Kenntnis hatte
möchte ich ich auf der Brust herumtrommeln und mit rotzerstickter Stimme rufen:
„Du-u-u-u lü-ü-ü-ü-ügst!!!!!!“
Aber ich darf das alles nicht, ich bin 48, aus der Trotzphase raus, ich bin vernünftig, weise, rational, ich muss mich wie ein Erwachsener benehmen.
Aber:
Der Altersstarrsinn kommt ja noch! Da freue ich mich drauf. Mit 90 darf ich dann endlich wieder eklig, stur, starrsinnig, unvernünftig, widerlich und meckerig sein.
Welt, mach dich auf was gefasst!

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