Dienstag, 16. Juli 2013

Reality writing

Der Stadtpark von Schnuffenhausen sieht ein wenig verwahrlost aus. Die Büsche wuchern wild durcheinander, der Rasen hat braune Erdflecken und in den Blumenbeeten feiert das Unkraut wilde Partys. Nach einer Weile sehe ich, auf einer Bank, die auch mal wieder einen Anstrich nötig hätte, sitzend, den Grund: Der Stadtgärtner arbeitet nicht, er hockt im Schatten und schreibt. Als ich ihn anspreche, verkündet er: „Das sind Notizen für Busch und Bogen – aus dem Alltag eines Stadtgärtners.“
Im Restaurant Schnuffelhauser Stuben werde ich eine halbe Stunde nicht bedient. Und das, obwohl das Lokal leer ist. Als ich meine Bestellung aufgegeben habe, braucht es noch einmal 30 Minuten bis mein Schnuffelhauser Pfännchen (Lendchen mit Blumenkohl, Bratkartoffeln und Salatgarnitur) kommt. Sie ahnen den Grund: Der Kellner steht am Buffet und schreibt an Zweimal Pils und Korn – aus dem Alltag eines Kellners und der Koch an Die eingebrockte Suppe – aus dem Alltag eines Kochs.
Nun werde ich wach und durchstreife gezielt die Stadt. Schnuffelhausen ist praktisch lahmgelegt. Der Einbrecher bleibt am Tatort und notiert und wird nur deshalb nicht in flagranti ertappt, weil der Polizist den Notruf aus gleichem Grund nicht entgegennimmt. In den Arztpraxen stapeln sich die Patienten, weil der Onkel Doktor an seinem Alltags-Buch arbeitet und kein einziger Raum wird mehr geputzt. Die Beschwerden im Rathaus häufen sich, werden aber nicht  bearbeitet, weil…
Sie wissen es schon.
Ich nehme mir ein Megafon, stelle mich auf den Markplatz und rufe:
AUFHÖREN! 
AUFHÖREN!
NIEMAND BRAUCHT DAS!
NIEMAND BRAUCHT IRGENDWELCHE ERFAHRUNGSBERICHTE!
Ist doch wahr. Die Buchhandlungen sind doch schon überschwemmt mit den lustigen Dingen, die Lehrer, Schüler, Lehrerkinder, Ärzte, Tierärzte, Zahnärzte und Tierpfleger erlebt haben. Und alle diese Machwerke kranken an zwei Dingen: Der Alltag – gleich welches Menschen – ist meistens gar nicht so lustig, wie man denkt. Man müsste eine lustige Begebenheit auch noch komisch darstellen, sprich lustig beschreiben können, was aber die Autoren nicht schaffen.
Die Verlage haben hier versucht, ein beliebtes Genre des Fernsehens aufs Buch zu übertragen:
Die Doku-Soap.
Und das klappt nicht.
Wenn im Stadtgarten ein Mensch auf nassem Laub ausrutscht, kann das irre komisch aussehen, geschrieben ist es NICHT LUSTIG. Wenn dem Kellner der Barsch für 12 Personen von der Platte gleitet, kann man das in Zeitlupe sehr witzig zeigen, geschrieben ist es NICHT LUSTIG. Abgesehen davon, dass halt der Automechaniker, der hier seine Erlebnisse schildert, kein Grass oder Genazino ist, weil dann wäre er ja auch kein Mechaniker. Oder anders formuliert: Ich möchte von meinem Lieblingsautor nicht den Blinddarm operiert bekommen, warum muss mein Doktor dann schreiben?
Vielleicht sollte man eine andere Spezialität des TV aufs Buch übertragen:
Die Retter-, Hilfe- und Aufräumdoku.
Die Textretter.
Davon ein anderes Mal mehr.
In Schnuffelhausen bin ich inzwischen umringt von einer Menschenmasse, so wie Gandalf und Legolas von den Orks oder Gulliver von den kleinen Männchen. Sie hören mir zu und…
Schreiben!
Zu Hilfe, sie schreiben!
Ich werde also in 1067 Erfahrungsberichten in Kapitel 4 oder 9 als der „Mann mit dem Megafon“ auftauchen. Der Schuss ging hinten los.

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