Dienstag, 7. August 2012

Der Osten wird nicht fertig


Nach Wismar war ich in Halle und während in der Hansestadt alle Häuser frisch renoviert, die Strassen gepflegt und die Parkanlagen üppig begrünt waren, sah ich an der Saale doch noch Etliches, was zu tun wäre: Da blätterte der Putz von den Fassaden, da fehlte der Teer auf den Strassen, da waren ganze Gebäude am Einstürzen, abgeriegelt und mit Graffiti beschmiert, da sah ich hohle Fensterrahmen und ausgehängte Türen. Wohlgemerkt, nicht überall, aber doch auch. Der Osten wird und wird nicht fertig. Warum?
Ich stellte diese Frage der Bedienung in einem Café und benützte, damit ich mich nicht als Wessi outete, einen leichten Emil-Steinberger-Slang.  Die Antwort haute mich um: „Ihr Schweizer seid schuld! Ihr bunkert das ganze Geld in Zürich und dann kommt nie als Touristen hierher!“ Ich wollte schon Luft holen, um zu sagen, dass ja jeder auch sein Geld wieder holen kann und dass viele, viele meiner Bekannten schon Rad-, Bus- und Fusstouren durch Mecklenburg oder die Mark gemacht hätten, da fängt sie an zu lachen: „War nur ein Witz! Aber doch mal origineller als die üblichen Schuldzuweisungen: Der Westen zahlt zu wenig Soli, der Osten gibt den Soli falsch aus, der Westen will nur verdienen, es herrscht immer noch sozialistischer Schlendrian, die Finanzkrise kam dazwischen, die Eurokrise kam dazwischen, das heisst ja eigentlich sind die Griechen schuld, wir haben zu viel Ausländer im Osten, wir haben zu viele Ausländer im Westen, wir haben zu viele Wessis im Osten, wir haben zu viele Ossis im Westen..“
„Und woran liegt es dann?“, will ich wissen.
Sie grinst: „Ganz einfach. Es war einfach so viel zu tun. Es ist ja nicht so, dass in Halle oder Leipzig nichts passiert, es gibt sogar sehr viel Neues, und da zähle ich die neuen Ideen wie Kooperationen und Alternativgeld ausdrücklich dazu, es geschieht halt nicht von heute auf morgen.“
Ich will nun doch wissen, wer die Schuld trägt.
„Wenn Sie hier ein Kaffeetrinken für 50 Personen bestellen und bei Ihrem Eintreffen ist nichts parat, dann ist das eigentlich der Fehler vom Chef, der muss die Arbeitsmenge kennen, muss Personalaufwand und Zeitablauf planen, dafür kriegt er die Kohle und hat ein eigenes Büro.  Und wenn um 15.30 nicht eingedeckt ist und kein Kuchen gebacken, liegt das nicht an den Angestellten und nicht am Material, sondern an seiner Peilung.“
Also – wenn es überhaupt um Schuld geht – der Fehler lag bei den damaligen Verantwortlichen, es wurden halt doch nicht binnen weniger Jahre „blühende Landschaften“, schade ist nur, dass man die Verpeilung nie zugegeben hat. Ein herzhaftes „Hallo Leute, hab mich verschätzt, geht doch ein bisschen langsamer“ wäre wohltuend gewesen. Allerdings wollte vor zwanzig Jahren natürlich auch niemand eine Blut, Schweiss und Tränen-Rede hören. Die ehrlicher waren, wurden nicht gewählt.
Als ich gezahlt habe, blickt die Bedienung mich noch einmal an und sagt: „Wann ist ein Land eigentlich fertig, im Sinne von komplett, von in Ordnung? Wenn alles renoviert ist oder wenn jeder sein Auskommen hat oder wenn die Menschen glücklich sind? Denken Sie darüber mal nach.“
Was ich versprach.


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